Die Schönheit der Chance

Die Coronakrise hat unser Leben auf den Kopf gestellt und einmal durchgeschüttelt, ob beruflich oder privat, ob in der Großstadt oder im Hinterland. Eine Bestandsaufnahme.

© Elisabeth Schmitt/Getty Images

Dies ist eine Premiere. Es ist die erste Ausgabe dieses Magazins in seiner 66jährigen Geschichte, die komplett remote produziert wurde: die Chefredakteurin am Kreuzberger Esszimmertisch, das Team über Berlin verteilt. Freie Autorinnen aus Leipzig und Dresden steuerten Texte bei, Gesprächspartner aus allen Ecken der Republik standen Rede und Antwort. Keine Reise wurde dafür unternommen, keine Hand geschüttelt. Wäre das ohne digitale Hilfsmittel auch gegangen? 

In einem Tweet des t3n-Magazins vom 17. April heißt es: „So hätte der Lockdown vor 18 Jahren ausgesehen: Du, allein zu Hause, mit einem Nokia 3310, deine 10 Frei-SMS = weg, deine 15 Freiminuten = weg, Snake schon 10 Mal durchgespielt, dich für teures Geld ins Internet einzuwählen kommt gar nicht in Frage.“ Zahlreiche weitere Posting in den Sozialen Medien stimmen in diesen Tenor ein: Ein Glück, dass wir digitale Tools haben! „Wenn man der Krise etwas Positives abgewinnen kann, dann ist es ein globaler Digitalisierungsboost“, sagt auch Tobias Hocke, WJD-Plattform-Beauftragter im Bundesvorstand 2020 und Geschäftsführer der bluewire. solutions GmbH & Co. KG in Birenbach.

Digitalisierung plötzlich alternativlos

Dabei ist es ja so, dass es den allergrößten Teil der digitalen Mittel schon vor dem Lockdown gab. Nur die Bereitschaft, die Tools zu nutzen, war nicht besonders ausgeprägt. Collaboration- Tools wie Teams oder Slack wurden im Mittelstand vor allem für den Flurfunk und weniger für das ortsunabhängige Arbeiten genutzt. Bei der Chancen-Risiken-Abwägung in Bezug auf Vertrauensarbeitszeit, Homeoffice und somit einer Abkehr von der Präsenzkultur gewannen die Vorsicht und die Vorbehalte.

Dann kam der Lockdown und mit ihm das verordnete Homeoffice, die Kontaktsperre und der Infektionsschutz. Was im März und April im Handel passierte, fasst Robert Claussen, Inhaber des Mitglieder-Resorts im Bundesvorstand 2020 und Geschäftsführer der DSG Elito GmbH in Kaiserslautern, so zusammen: „Eine nicht zu erwartende Verschiebung in der Zeitachse hatte begonnen. Viele Prozesse wurden von jetzt auf gleich verändert. Kleinbeträge, etwa beim Bäcker, konnten plötzlich kontaktlos mit Karte oder Mobiltelefon gezahlt werden. Unternehmen im Einzelhandel und der Gastronomie haben ihre Geschäftspolitik anpassen müssen.“

Einsamkeit vs. Videokonferenzoverkill

© Cyril Gosselin/Getty Images

Und noch etwas geschah: Veranstaltungen mussten abgesagt werden. Einen Verband wie die Wirtschaftsjunioren, der vom Beisammensein, von den gemeinsamen Erlebnissen, den Diskussionen und Gesprächen lebt, trifft das hart. Nach einer kurzen, ungläubigen Schockstarre berappelten sich die Juniorinnen und Junioren: „Ich erlebe in unserem Verband eine Vielfalt an kreativen Lösungen und Formaten, um die Kontakte und Projekte weiterhin stattfinden zu lassen. Ein wahrer Boom hat hier über digitale Plattformen begonnen, um den Austausch und das Miteinander weiterhin zu ermöglichen“, sagt Robert. Einen kleinen Einblick in die Vielfalt dieser Veranstaltungen erhaltet ihr ab Seite 40. So konnte manch einer am Montag an einem Webinar zum Thema „Wie geht Teamführung remote?“ teilnehmen,  am Dienstag an einen politischen Talk live im Netz verfolgen, am Mittwoch beim digitalen Kneipenquiz mitraten, am Donnerstag bei einer digitalen WJ-Veranstaltung diskutieren und am Freitag mit den Freundinnen und Freunden ein digitales Bier heben. Was zunächst gewöhnungsbedürftig erschien, lief bald rund und wurde erfolgreich. Für Robert sind es dabei vor allem auch die Mitglieder aus den ländlichen Regionen, die von der Umstellung auf digitale Formate profitieren: „Jetzt lassen sich viele drauf ein, die vorher gezögert haben. Und die jetzt nicht mehr nur auf Kreis ebene teilnehmen und agieren, sondern auch auf Bundesebene unterwegs sind!“ Gerade im ländlichen Raum funktioniere vieles eben über Stammtische und Geselligkeit und es habe einen Moment gedauert, bis man sich an die neue Form des Zusammenseins gewöhnt hatte.

Jetzt, da alle in der neuen, digitalen Veranstaltungsnormalität angekommen sind, werden auch die Vorteile umso deutlicher. „Der Aktionsradius erweitert sich“, sagt Robert, weil er zum Beispiel an der Vollversammlung der WJ Hamburg teilnehmen kann – mit nur einem Klick, statt mehrerer Stunden Reisezeit. Und auch die Fahrtzeit innerhalb der eigenen Region, sei es zur Arbeit oder zu WJ-Veranstaltungen, fällt nun weg. Eins jedenfalls vorausgesetzt: Dass eine vernünftige Internetverbindung da ist. Tobias hat da nämlich einige Bedenken: „Hier fällt natürlich auf, dass das Thema Breitbandausbau so aktuell wie eh und je ist und bleibt. Ich habe das ein oder andere Mal von Kolleginnen und Kollegen gehört, dass es ziemlich lästig ist, wenn der ‚VPN Client‘ sich mehrmals neu verbindet.“

Ich erlebe in unserem Verband eine Vielfalt an kreativen Lösungen und Formaten, um die Kontakte und Projekte weiterhin stattfinden zu lassen.

Robert Claussen

Inhaber des Mitglieder-Resorts im Bundesvorstand 2020 und Geschäftsführer der DSG Elito GmbH

Ohne Internet geht’s schlecht

Fehlt die Infrastruktur, ist die digitale Begeisterung schnell ausgebremst. Aber wie steht es wirklich um die Digitalisierung im Hinterland? Was sind die Herausforderungen und Bedürfnisse ländlicher Regionen? Das sind die Fragen, denen wir in diesem Heft nachgehen wollen. So haben wir den Bürgermeister von Haßmersheim im Neckartal nach dem Stand der Digitalisierung in seinem Rathaus gefragt und einiges über Verwaltung und Management in ländlichen Regionen erfahren (ab Seite 20). Wir blicken nach Aue und entdecken Überraschendes (ab Seite 16) und machen einen Abstecher nach Bisingen zu Johannes Ertelt, der mit seinem Verständnis von einer modernen und serviceorientierten Apotheke im letzten Jahr den „Zukunftspreis Handel“ gewinnen konnte (ab Seite 24).

Blickt man nämlich genau hin, im Hinterland, stellt man fest: Hier ist nicht alles Ödnis, schlechtes Internet und ein miserabler Takt im Nahverkehr. Hier gibt es engagierte junge Unternehmer und Unternehmerinnen, Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die das Direkte im Kleinteiligen schätzen. Die gestalten wollen, die Dinge einfach machen und gar nicht neidisch nach Berlin, Hamburg oder München blicken. „Hier ist auch der Zusammenhalt ein ganz wichtiges Thema. Firmen unterstützen sich gegenseitig mit Know-how und Kapazitäten. Regionale Lieferketten können auch auf Krisen ganz anders reagieren als global vernetzte Unternehmen“, stellt Tobias fest.

Das Thema Breitbandausbau ist so aktuell wie eh und je.

Tobias Hocke

WJD-Plattform-Beauftragter im Bundesvorstand 2020 und Geschäftsführer der bluewire.solutions GmbH & Co. KG

Sonderseiten in bewegten Zeiten

Und weil das Thema Coronakrise natürlich auch zur Sprache kommen soll, haben wir diese Ausgabe um einige Corona- Sonderseiten erweitert. Ab Seite 10 könnt Ihr erfahren, wie sich die Krise auf die Staatsministerin für Digitalisierung, auf die WJD-Geschäftsführerin, auf den Bundesvorsitzenden der Junioren des Handwerks, eine Hebamme, eine Ärztin und zwei internationale Unternehmerinnen aus dem JCI-Netzwerk ausgewirkt hat und was ihnen Grund zur Hoffnung gibt. Und auf Seite 14 und 15 blicken wir noch einmal auf unsere #systemrelevant-Kampagne in den Sozialen Medien zurück.

Ob die nächste Ausgabe auch remote produziert werden muss, ist noch nicht klar. Aber wir wissen jetzt: Es geht – der Digitalisierung sei Dank sogar recht gut. Die Krise hat uns lernen lassen und wachsen. Wir wissen aber auch, was nicht funktioniert hat: Eltern, die sich zerreißen zwischen Kinderbetreuung, Home-Schooling und Unternehmen oder Beruf. Azubis, die von einem auf den anderen Tag nicht mehr ausgebildet werden können. Unternehmen, die Insolvenz anmelden müssen, weil sie nicht in die Schablonen der Soforthilfen passen. 

Was wir aus der Krise lernen, birgt die Chance, die Welt nach Corona zu einem besseren Ort zu machen. Vieles von dem, was plötzlich funktionieren musste, wird zukünftig ganz normal sein. Und vieles von dem, was ganz normal war, wird überflüssig sein. Die Zeit wird zeigen, welche Lehren wir wirklich aus der Krise ziehen werden.