Europäisches Schicksalsjahr

Europa, was genau ist das eigentlich? Eine Gestalt der griechischen Mythologie, eine Friedensnobelpreisträgerin, ein Subkontinent, eine Utopie? Klar ist: Die Europäische Union ist ein Garant für Frieden und Wohlstand auf einem jahrhundertelang kriegsgebeutelten Kontinent. Und sie steht vor großen Herausforderungen.

© GettyImages

Was ist Europa? Egal, aus welcher Richtung man sich dieser Frage zu nähern versucht – historisch, geografisch, politisch, kulturell –, man wird kaum eine befriedigende Antwort finden. Europa ist nicht statisch, nicht eindeutig zu definieren. Europa ist Auslegungssache. Eine Idee mit viel Interpretationsspielraum. Machen wir es uns ein bisschen einfacher und betrachten die EU: Ihre Geschichte beginnt mit dem Schumann-Plan. Der französische Außenminister schlug 1950 vor, „die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht.“ Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer stimmte diesem Vorschlag sofort zu. Es entstand die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die unter dem Namen Montanunion berühmt wurde. Adenauer sah in dem Plan besonders für das Ruhrgebiet eine Chance auf neues Wachstum und für Deutschland eine Rückkehr in die westeuropäische Staatengemeinschaft, während sein Wirtschaftsminister Ludwig Erhard skeptisch blieb. Für Erhard bedeutete die Montanunion, volkswirtschaftliche Grundsätze hintenanzustellen – ein Preis, der ihm zu hoch erschien.

Anfangs ein Friedensprojekt

Die europäische Einigung war in ihren Anfangsjahren vordergründig wirtschaftlich motiviert und in ihrem Kern jedoch immer ein Friedensprojekt. Europa war nach dem Zweiten Weltkrieg gespalten in West und Ost, der Westen fühlte sich von der Sowjetunion bedroht, die Gefahr eines neuerlichen Krieges war ständig greifbar. Ein dauerhafter Frieden, das war für die meisten Europäer zu dieser Zeit eine ferne Utopie. Nun sind es bereits 70 Jahre. Die längste Friedensperiode der europäischen Geschichte.

Die Europäische Union basiert auf den Römischen Verträgen, die 1957 zwischen sechs Ländern geschlossen wurden. Heute sind es 28. In der Zwischenzeit gab es Erweiterungen, Umbenennungen und Reformen. Und eine gemeinsame Währung. Doch der Versuch einer gemeinsamen Verfassung – und damit einer grundlegenden Neuordnung – scheiterte 2005 an den ablehnenden Volksabstimmungen der Franzosen und der Niederländer. Womit wir wieder bei der Frage vom Anfang wären: Was ist Europa – was eint Europa? Sie eint, dass Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern zu den höchsten Gütern all ihrer Gesellschaften zählen. Die Europäische Union ist in ihrem Kern eine Wertegemeinschaft. Und sie ist zu einer Handelsmacht geworden.

Heute ein Wirtschaftsraum

Die EU-28 inklusive Großbritannien hat rund 512 Millionen Einwohner und ein BIP von 15,8 Billionen Euro (Stand 2018, Quelle: Eurostat). Gemessen am BIP ist die Wirtschaft der EU größer als die Wirtschaft der USA. Doch ihre Strukturen sind für eine Gemeinschaft dieser Größenordnung nicht gemacht. Wenn die EU uns manchmal behäbig und schwerfällig vorkommt, dann ist das auch und vor allem ihrer Geschichte und der Geschichte unseres Kontinents geschuldet. Im Zuge mehrerer Erweiterungsrunden wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs versucht, möglichst viele Länder möglichst schnell unter das Dach der europäischen Gemeinschaft zu holen. Doch es wurde verpasst, vorher die notwendigen Strukturen und Prozesse zu schaffen, um beweglich zu bleiben. Die EU hat sich selbst gelähmt.

Eine neue Architektur der Union ist dringend nötig – gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Die EU muss Antworten finden auf die anti-europäischen Strömungen, die mittlerweile überall zu spüren sind. Aber auch auf den Brexit, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern und die Konkurrenz aus den USA und China, besonders wenn es um Innovationen geht. Hier ist es besonders die vierte industrielle Revolution, die die Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft verändert und die Innovationskraft zum wichtigsten Faktor für zukünftigen Wohlstand macht. Europa muss sich daher weiterentwickeln, zu einem attraktiven Standort und Geburtsort technologie- und wissensbasierter Unternehmen: einem Innovationshub. Dafür müssen Investitionen in Forschung, Bildung und digitale Infrastruktur getätigt werden.

„Brexit means Brexit“

Das Jahr 2019 könnte ein Schicksalsjahr für Europa werden. Zum Redaktionsschluss war nicht klar, wann und wie – und ob überhaupt – der Brexit Realität wird. Für die britische Wirtschaft war der Brexit bisher eine einzige, fast drei Jahre andauernde Hängepartie. Aber auch für viele Unternehmer hierzulande ist die Unsicherheit zu einer Belastung geworden. Die Geschäftslage der Unternehmen hat sich bereits vor dem Brexit-Jahr erheblich verschlechtert. So konnte im Jahr 2018 laut einer Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) nur noch jedes fünfte deutsche Unternehmen von guten Geschäften in Großbritannien berichten. Und die Sorgen mit Blick auf die weitere Entwicklung sind groß: 70 Prozent der Unternehmen erwarten 2019 eine Verschlechterung ihrer Geschäfte mit den Briten.

Das Handelsvolumen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich betrug im letzten Jahr 119 Milliarden Euro. Laut DIHK hängen etwa 750.000 Arbeitsplätze in Deutschland vom Handel mit Großbritannien ab. Auch unter den Wirtschaftsjunioren gibt es Unternehmerinnen und Unternehmer, die vom Brexit betroffen sind. So berichtete Martin Büchs, Geschäftsführer der JOPP Group, bereits im Januar: „Wir sind als Automobilzulieferer abhängig von den Bestellungen unserer Kunden. Der eine oder andere Kunde hat bereits angekündigt, für den Fall eines ungeordneten Brexits, die Produktion für wenigen Wochen zu stoppen. Unser größtes Problem daran ist die Unsicherheit. Wir können die Auswirkungen derzeit nur schwer planen.“

Unsicherheit und Nervosität im Zusammenhang mit dem Brexit beschreibt auch der Geschäftsführer der FSA Fremdsprachen-Akademie GmbH und ehemalige Bundesvorsitzende Daniel Senf. Denn zum einen wissen viele britische Sprachlehrer, die in Deutschland leben und arbeiten, nicht, ob sie nach einem Brexit problemlos bleiben können. Zum anderen sinkt die Nachfrage nach Sprachreisen ins Vereinigte Königreich – wie sich der Markt für seine dortigen Partner entwickeln wird, ist nicht abzusehen. Andere sehen wiederum die Möglichkeit, vom Brexit zu profitieren. Wie Sandra Garn: Die Beratungsleistungen ihres Consulting-Unternehmens werden durch einen Brexit womöglich stärker nachgefragt.

Bei all diesen Problemen und Unwägbarkeiten werden die Erfolge der EU oft übersehen.

Bei all diesen Problemen und Unwägbarkeiten werden die Erfolge der EU oft übersehen. Zu den erfreulichen Nachrichten der jüngsten Vergangenheit gehört etwa das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan, das seit dem 1. Februar 2019 in Kraft ist. Seitdem entfallen etwa die EU-Zölle für japanische Autos in Höhe von zehn Prozent und japanische Zölle auf europäischen Käse von knapp 30 Prozent. Zudem sollen europäische Unternehmen einen besseren Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen in Japan bekommen sowie die Märkte unter anderem für Dienstleistungen und Telekommunikation geöffnet werden. Beide Regionen repräsentieren zusammen etwa ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung.

Was hat die EU in den letzten Jahren noch geschafft? Die Roaming-Gebühren im Mobilfunk sind endlich gefallen. Mindestens 17.000 junge Europäer haben im letzten Jahr im Rahmen der DiscoverEU-Kampagne ein Interrail-Ticket von der Europäischen Kommission geschenkt bekommen und konnten den Kontinent erkunden, Freundschaften knüpfen und ihre europäische Identität erfahren. Ein digitaler Binnenmarkt ist in Arbeit. Und Europa hat sich im letzten Jahr wirtschaftlich weiter erholt: Alle 28 EU-Staaten verzeichnen Wirtschaftswachstum, die Arbeitslosigkeit in der EU ist so niedrig wie seit neun Jahren nicht mehr.

© GettyImages

Zukunft Europa(s)

Klar ist: Ohne Europa geht es nicht. Auch nicht für die junge Wirtschaft. Alle europäischen Unternehmen profitieren stark von den vier Grundfreiheiten des freien Warenverkehrs, der Personenfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit sowie des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs und den Skaleneffekten des Binnenmarkts. Unsere Aufgabe ist es, die junge Generation (wieder) für Europa und seine Werte zu begeistern. Der Frieden, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte für jeden Einzelnen sind keine Selbstverständlichkeit. Wir alle – ob als Unternehmer, Führungskraft oder Bürger – profitieren von dieser Gemeinschaft. Wir sind die Zukunft Europas.