„Jeden Morgen müssen wir fragen: Bist du am Leben?“

© CoreWillSoft

Im Heimatland von WJ Kreissprecher Ivan Kravchenko herrscht Krieg. Die IT-Firma CoreWillSoft des studierten Mathematikers hat ein Office in Bonn und in Dnipro, Ukraine. Im Interview spricht Ivan mit uns über die Auswirkungen der humanitären Katastrophe in der Ukraine und seinen persönlichen Umgang damit.

Unterhalb des Interviews haben wir aktuelle Spendenmöglichkeiten für die Ukraine zusammengetragen.

Ivan, Du bist Kreissprecher der Wirtschaftsjunioren Bonn, aber auch gebürtiger Ukrainer. Wie geht es Deiner Familie und Deinen Freunden in der Heimat? Wie steht ihr in Kontakt?

Bei meiner Familie herrscht einfach Schrecken. In der Nacht des russischen Angriffs haben wir sofort telefoniert. Meine Mutter und die Eltern meiner Frau haben beschlossen, erst einmal die erste große Fluchtwelle abzuwarten. Die meisten Familienmitglieder leben in kleineren Städten, aktuell abseits der großen Bombardements. Allerdings kann sich das jederzeit ändern. Meine Mutter lebt in Slowjansk in der Umgebung von Donezk. Die Eltern meiner Frau in Bohoduchiw, bei Charkow. Wir kommunizieren hauptsächlich über Telegram mit der Heimat, per Chat und Telefon. Zum Glück gibt es bisher noch Internet.

Du bist selbst dort aufgewachsen?

Ja, ich bin in Donezk geboren und habe in Charkow angewandte Mathematik am Kharkiv Aviation Institute (KhAI) studiert. Charkow wurde inzwischen massiv bombardiert. Es fliegen Raketen und Vakuumbomben auf die Region, ich sehe davon nur einzelne Ausschnitte. Ich weiß nicht, welche der Orte, mit denen ich dort viele Erinnerungen verbinde, jetzt noch existieren. Ich habe Freunde überall, auch in Kiew und Charkow. Mit ihnen bin ich ebenfalls permanent im Austausch

Wie hältst Du Dich insgesamt über die Lage vor Ort auf dem Laufenden?

Ich schreibe nicht nur meinen Verwandten und Freunden auf Telegram, ich folge dort auch einer Chat-Gruppe. Darin gibt es Sofort-Updates von Journalisten in der Ukraine, der Kanal hat rund 1 Millionen Abonnenten. Außerdem folge ich dem YouTube-Kanal der „Rada“. Die „Rada“ ist das Parlament der Ukraine und dort gibt es alle aktuellen Nachrichten der ukrainischen Regierung. Und dann bin ich noch Mitglied der Gruppe „IT Army of Ukraine“, denn ich bin IT-Unternehmer. Gemeinsam mit Gleichgesinnten tauschen wir uns in diesem Chat darüber aus, was wir mit unserem Know-How gegen die Okkupanten in unserem Land tun können. Krieg ist 2022 nicht mehr wie 1940, er findet auch online statt.

© CoreWillSoft / Bild: Violetta ist Teil von Ivans Team

Deine Firma CoreWillSoft hat ein Office in Bonn und in Dnipro in der Ukraine. Wie geht es Deinem Team dort? Arbeiten sie noch?

Diejenigen, die im Ausland sind, wollen ihre Familie nachziehen. Aber die Männer dürfen nicht mehr raus, da Kriegszustand herrscht. Daraus folgen familiäre Tragödien, wo die Familien sich auf unbestimmte Zeit voneinander trennen müssen. Schwere Entscheidungen sind jetzt gang und gäbe.    

Unsere Business Development Managerin Violetta steckt in Spanien fest. Sie war auf einer Messe in Madrid und konnte nicht zurückfliegen. Ein anderer Mitarbeiter ist in Georgien und kann ebenfalls nicht zurück. Das Büro in Dnipro ist leer. Am ersten Tag des Angriffs ist natürlich das ganze Team in der Ukraine ausgefallen. Doch inzwischen arbeiten dort die meisten von zuhause aus. Es bringt sie auf andere Gedanken und zum Glück gibt es bisher noch Internet. Natürlich gibt es unterschiedliche emotionale Resilienz. Manche können mit dem Geräusch von Bomben vor der Haustür arbeiten, andere nicht. Das Risiko des zivilen Beschusses steigt. Mit allen Mitarbeitenden sind wir jeden Morgen im Kontakt über Telegram. Jeden Tag müssen wir fragen: Bist du am Leben?

Trotz der schrecklichen Lage in der Ukraine musst Du weiter ein Unternehmen führen. Wie gehst Du damit im Kontakt mit Kunden um?

Nach Kriegsausbruch haben wir alle angeschrieben oder angerufen, mit denen wir aktiv an Projekten arbeiten. Wir haben die Lage im Unternehmen geschildert und auf akute Risiken hingewiesen. Die meisten haben Verständnis für unsere Lage, aber die Reaktionen sind dennoch unterschiedlich. Einige begegnen uns mit viel Entgegenkommen, andere schauen zuerst auf die Business Seite. Auch wenn es nicht ausgesprochen wird, zwischen den Zeilen hört man die Fragen: Was passiert, wenn jemand aus dem Team ins Militär geht? Was passiert, wenn sie sterben? Meine Mitarbeiter bekommen das zum Glück nicht mit. Bisher konnten wir auch alle Kunden halten.

Wie stehst Du als Kreissprecher derzeit mit den Mitgliedern der WJ Bonn und dem WJ Netzwerk insgesamt im Austausch?

Viele haben natürlich bei mir nachgefragt, wie sie mir helfen können. Nicht nur im WJ Kreis, auch bundesweit aus meinem ganzen Umfeld. Für die WJ Bonn habe ich ein kurzes Video gedreht, das ihr bald auch in den WJD Social Media Kanälen sehen könnt. Mein Stellvertreter im Kreis hat mir sogar seine Wohnung für meine Verwandten angeboten, er würde woanders hinziehen. Das war sehr rührend, aber meine Familie ist bis auf Weiteres in der Ukraine.

Was wünschst Du Dir aktuell von der deutschen Politik?

Von der Bundesregierung wünsche ich mir vor allem schnelle Reaktionen. Bei SWIFT hat das zum Beispiel einfach zu lange gedauert. Ich weiß, dass Deutschland auch vom russischen Gas abhängig ist. Aber Europa ist in Gefahr. Wenn man nicht von militärischem Schutz spricht, dann sollten zumindest alle wirtschaftlichen Register gezogen werden. Auch Ausrüstung und Waffen sind meiner Meinung nach wichtig. In den Chats, denen ich in der Ukraine folge, habe ich bisher nicht gesehen, dass die versprochenen deutschen Waffenlieferungen angekommen sind. Es ist sehr wichtig, wie sich Deutschland verhält: Andere Länder in Europa orientieren sich daran, ein Zögern der Unterstützung wird sofort registriert. Die nächste Gelegenheit ist jetzt der EU-Beitritt. Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Ich wünsche mir, dass Deutschland die Ukraine bei ihrem Antrag unterstützt.

© CoreWillSoft / Bild: Das Team von CoreWillSoft

Wie beurteilst Du die Arbeit der ukrainischen Regierung?

Ich weiß nicht, wie ich selbst in ihrer Lage reagieren würde, aber ich finde es eine enorme Leistung. Die Maßnahmen, die sie ergriffen haben, wirken. Vor diesem Krieg habe ich von unserem Präsidenten ehrlich gesagt nicht so viel gehalten. Ich habe ihn auch nicht gewählt. Jetzt habe ich Meinung über ihn geändert. Ich sehe, dass er in dieser Krise nicht lockerlässt und das Land wirklich führt. Auch der IT-Minister beeindruckt mich. Er kontaktiert die internationalen Tech-Konzerne, fordert etwa auch Visa und Mastercard auf, Russland von ihren Systemen abzukoppeln. Solche Maßnahmen sind wichtig, denn sie zeigen der russischen Bevölkerung, dass etwas nicht stimmt. Anders dringt es in dieser Diktatur leider nicht zur Bevölkerung durch.

Hast Du auch persönliche Kontakte nach Russland?

Ja, ich habe Verwandte in Russland. Sie haben mich am Morgen, als der Krieg ausbrach, angeschrieben, dass das Land der Ukraine alles habe, was es brauche – aber Menschen dort hätten kein Gehirn von Gott zugeteilt bekommen. Sie haben die Staatspropaganda in Russland vollkommen übernommen. Das ist sehr traurig, und meine Verwandten in Russland erfahren leider weniger über mich als Du in diesem Interview.

Ich erinnere mich auch an einen persönlichen Besuch in St. Petersburg. Am Flughafen wurde bewaffnete Verstärkung gerufen, als man meinen Pass sah. Menschen haben einen Bogen um mich gemacht. Ich spreche Russisch, aber natürlich habe ich einen ukrainischen Akzent, der Russen auffällt. Dann gab es komische Blicke. Damals habe ich das nicht verstanden, aber inzwischen ist es mir klar: Das sind die Folgen der Propaganda. Es wurden über Jahre akribisch Vorurteile gegen uns aufgebaut. Ich habe damals in Russland eine Fernsehsendung gesehen; nicht einmal ein Politikjournal oder Nachrichten, einfach nur ein Entertainment-Programm über Sternzeichen. Dort sagte man: „Die Konstellation der Sterne sagt uns, die Ukraine muss in diesem Sommer angegriffen werden!“

Viele wollen in der aktuellen Situation helfen. Wo und wie kann man jetzt effektiv unterstützen?

Spenden sind natürlich wichtig, jeder Euro und jede Sachspende zählt jetzt. Aber es gibt viele weitere Möglichkeiten. Von der Unterstützung Geflüchteter, über Einflussnahme auf die deutsche Politik bis hin zur Bereitstellung von Services des eigenen Unternehmens und vielem mehr. Jeder kann in seinem Umfeld aktiv werden.

Ivan, vielen Dank, dass Du Dir inmitten all dieser unfassbaren Herausforderungen die Zeit für dieses Interview genommen hast.

So kannst Du helfen! Unterstützung der Menschen in der Ukraine

In Bonn und Süddeutschland
*Der Verein DHHN hat Sammelstellen in Bonn, Baden-Württemberg und Bayern eingerichtet. Ivans Frau war während unseres Interviews bei der Bonner Sammelstelle. Auf der Website des Verbandes gibt es eine Karte der Annahmestellen (Achtung: nur nach vorheriger Absprache!) und genaue Einkaufslisten für die Zusammenstellung der Care-Pakete:

www.dhhn.de/ukraine-in-not-spenden-und-sachspenden-jetzt

Spendenmöglichkeit bundesweit

Der Verein Deutsch-Ukrainisches Forum e.V. ruft gemeinsam mit dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und der AHK Ukraine dazu auf, für die Hilfsaktion der Johanniter-Unfall-Hilfe zu spenden:

Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.,
BIC: BFSWDE33XXX
IBAN: DE94 3702 0500 0433 0433 00
Bank für Sozialwirtschaft
Stichwort: Ukraine

www.d-u-forum.de/hilfsaktion-kein-krieg-in-europa

Das „Bündnis Entwicklung Hilft“ und „Aktion Deutschland Hilft“ rufen in einem Zusammenschluss dutzender deutscher Hilfsorganisationen mit folgendem Konto gemeinsam zu Spenden auf. Die Kontodaten und Website für weitere Informationen:

BEH und ADH
IBAN: DE53 200 400 600 200 400 600
BIC: COBADEFFXXX
Commerzbank
Stichwort: ARD/ Nothilfe Ukraine

www.spendenkonto-nothilfe.de