Steuerfreie Überstunden: überfällig oder überflüssig?

Ein Vorschlag aus dem neuen Koalitionspapier lautet: Steuerliche Entlastung für Überstunden von Vollzeitkräften soll unter anderem dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Doch Unternehmerin Christina Diem-Puello warnt: Diese Maßnahme greift zu kurz – und geht an der Realität vieler Angestellter vorbei. Sie benachteilige jene, die familiäre Sorgearbeit leisten, zementiere überholte Strukturen und verhindere echte Modernisierung der Arbeitswelt. Ein Meinungsbeitrag.

Steuerfreie Überstunden klingen nach mehr Leistung, mehr Arbeit, mehr Fachkräftebindung. In Wirklichkeit zementieren sie ein Arbeitszeitmodell, das an der Lebensrealität eines Großteils der Beschäftigten vorbeigeht und strukturelle Ungleichheiten verschärft.

Denn: Wer kann regelmäßig Überstunden machen? Menschen in stabilen Vollzeitstellen, ohne Betreuungspflichten. Wer Care-Arbeit leistet – Kinder erzieht, Angehörige pflegt, den Alltag organisiert – hat schlicht keine zusätzliche Zeit zu „verkaufen“. Frauen, insbesondere Mütter, arbeiten deutlich häufiger in Teilzeit oder in Arbeitszeit modellen, die mit familiärer Sorgearbeit vereinbar sind. In Teilzeitmodellen werden Überstunden jedoch nicht gefördert. Das heißt: Die Maßnahme begünstigt eine Arbeitskultur, die zeitliche Präsenz über tatsächliche Leistung stellt – zulasten derjenigen, die Care-Arbeit leisten.

Die sogenannte Care Gap, also die ungleiche Verteilung unbezahlter Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern, wird so nicht kleiner, sondern größer. Laut BMFSFJ leisten Frauen im Schnitt 44,3 % mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer – und arbeiten gleichzeitig seltener in Vollzeit. Steuerfreie Überstunden adressieren damit systematisch nur die eine Hälfte der Arbeitswirklichkeit. Der Versuch, über Steuervergünstigungen die Attraktivität von Überstunden zu erhöhen, läuft an den Bedürfnissen vieler Beschäftigter vorbei und setzt falsche Anreize.

Zudem birgt das Modell die Gefahr, bestehende Strukturen in Unternehmen zu verfestigen. Statt echte Transformationen – wie Führung in Teilzeit, Jobsharing oder lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle – anzustoßen, wird die traditionelle Arbeitswoche belohnt. Eine zukunftsweisende Personal politik muss jedoch auf Flexibilität, Effizienz und Diversität setzen.

Der Vorschlag bedeutet zudem weniger Steuereinnahmen – Gelder, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden, etwa für Bildungsinvestitionen oder den Ausbau von Betreuungsinfrastrukturen, die echte Vereinbarkeit fördern würden. Einseitige steuerliche Begünstigungen hebeln zudem das Prinzip der steuerlichen Gerechtigkeit aus und führen zu einer neuen Art von Privilegierung.

Wir benötigen Wachstum, flächendeckend mehr Arbeit und das Ausschöpfen sämtlicher Arbeitskräftepotenziale. Wir sollten die Debatte daher differenziert führen und uns individuell anschauen, welche Arbeitszeitmodelle an welcher Stelle Sinn machen. Wenn wir den Fachkräftemangel wirklich bekämpfen wollen, müssen wir an den Ursachen ansetzen: bessere Bildung, gezielte Qualifizierung, Einwanderung in den Arbeitsmarkt, Förderung von Frauen in Führung, digitale Prozesse, die Produktivitätssteigerung.

Was wir wirklich brauchen, ist eine Arbeitswelt, die Vielfalt zulässt und nicht alten Mustern folgt. Steuerfreie Überstunden sind in diesem Sinne keine zukunftsweisende Antwort. Wenn wir das Potenzial und die Leistung aller Menschen heben wollen – ob mit oder ohne Care-Verantwortung – müssen wir Strukturen modernisieren, nicht verfestigen.

© privat

Christina Diem-Puello

ist Geschäftsführerin von Deutsche
Dienstrad, Wirtschaftsjuniorin
und Präsidentin des Verbands der
Unternehmerinnen in Deutschland
(VdU).

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