Über das Skateboardfahren in Afghanistan

© Jeremy Meek

Oliver Percovich hat eine Schule gegründet, in der afghanische Kinder Skateboardfahren lernen – und unterstützt so eine ganze Gesellschaft beim Neustart. Ein Gespräch über Lernen, Skateboards und Hoffnung.

© Jake Simkin

Oliver, Du bist 2007 von Australien nach Kabul gegangen, weil Deine Freundin dort eine Stelle als Forscherin bekam. Was wolltest Du in Kabul tun?

Ich war selbst auf der Suche nach einem Job. Zuvor hatte ich als Forscher an einer Universität in Melbourne gearbeitet und auch selbst einige kleine Unternehmen geleitet. Ich wollte dorthin gehen und schauen, was ich bewegen kann. Bis dahin war ich in über 40 Länder gereist und hatte viele verschiedene Jobs gemacht.

Ich liebe alles Neue, deshalb war es für mich aufregend, nach Afghanistan zu gehen. Alles, was ich über das Land gelesen hatte, sagte mir nur, dass es ein sehr, sehr beängstigender Ort sei. All die anderen Ausländer wohnten in geschlossenen Vierteln und fuhren in gepanzerten Wagen mit vielen Waffen herum. Und ich bin einfach nur auf einem Skateboard durch die Straßen Kabuls gefahren, bin ganz anders an die Sache herangegangen, und das schien mir mehr Sinn zu ergeben.

Wie ist Skateistan entstanden? 

Das passierte über einen längeren Zeitraum. Als ich 2007 zum ersten Mal in Kabul ankam, gab es diese kleinen Skateboard-Sessions. Aber meistens waren außer mir nur ein paar andere Ausländer dabei, und irgendwann auch einige afghanische Jungen aus der Mittelschicht, die sich dafür interessierten. Wir fanden einen alten Springbrunnen, den wir als Halfpipe nutzen konnten. Skateboarden war etwas Neues und Cooles. Die Kids, die auf der Straße bettelten, kamen angerannt, als sie uns sahen, und fragten uns nach Geld. Ich selbst hatte damals kein Geld, aber ich hatte ein Skateboard. Also nutzte ich es als eine Möglichkeit, mit ihnen mal richtig zu interagieren.

Dann bekam ich mit, dass die Rolle der Mädchen in der afghanischen Gesellschaft so begrenzt war, dass sie nicht einmal Drachen steigen lassen durften. Es gab keine Frauen, die Autos fuhren, keine Frauen auf Fahrrädern. Und dann plötzlich fährt ein Mädchen auf meinem Skateboard! Irgendwann wurde mir auch klar, dass in Afghanistan die Hälfte der Bevölkerung unter 16 Jahre alt ist. Sie müssen Teil des Wiederaufbaus Afghanistans sein und dürfen nicht ständig von den internationalen Hilfen und Geldern abhängig sein. Und so dachte ich mir, es ist am besten, wenn ich irgendwie in diese Kinder investiere.

Das war 2007. 2008 kehrte ich dann mit einigen Skateboards nach Afghanistan zurück, und mit einem etwas detaillierterem Plan, was dabei tatsächlich herauskommen könnte. Da habe ich die kleinen Skateboard-Sessions strukturierter durchgeführt. Eine Website eingerichtet, erste Spenden eingesammelt. Ich lebte immer noch von zwanzig Dollar pro Woche, buchstäblich. Ich habe einfach getan, was ich konnte, um Skateistan langsam aufzubauen. Das war wirklich aufregend für mich!

© Andy Buchanan

Hattest Du eine Vision? War Dir klar, wie groß Deine Idee werden könnte?

Es begann auf dem allerkleinsten Level. Es gab ein paar Dinge, die mir Hoffnung machten; in den kleinen Skateboard-Sessions waren Mädchen und Jungen zusammen, reichere und ärmere Kinder. Ich sorgte dafür, dass die Gruppen ethnisch divers waren. Und sobald ich sehen konnte, wie die Kinder miteinander kommunizierten, sich aufeinander einließen, miteinander auskamen und begannen, eine neue Identität als Skateboarder zu entwickeln, schöpfte ich Hoffnung. Dann konnte ich anfangen, größer zu denken: Also, wenn es in einem wirklich kleinen Maßstab funktionieren kann, könnte es vielleicht auch in einem größeren Maßstab funktionieren. Und das ist genau das, was Afghanistan braucht. Es braucht Vertrauen zwischen den verschiedenen Ethnien, damit sie tatsächlich eine Gesellschaft und eine Wirtschaft aufbauen können.

Eines der ersten Dinge, die ich verstand, war, dass die Kinder jemanden zum Zuhören brauchten. Und Kinder, die Skateboard fuhren, erzählten mir: Hey, wir gingen zur Schule, bis wir acht, neun, zehn Jahre alt waren. Dann haben unsere Eltern uns von der Schule genommen, und wir müssen jetzt auf der Straße arbeiten. Wir wollen wieder zur Schule gehen!

Was geschah dann?

Dann begann ich nachzudenken: Vielleicht können wir etwas mit Skateboarding und Bildung machen. In mir reifte diese Idee, etwas zu tun und diese Kinder wieder zur Schule zu bringen. Ich hatte immer noch kein Geld, so dass nur kleine Dinge möglich waren. Aber langsam wurde die Idee immer größer und größer, und es kam zu dem Punkt, an dem es mir gelang, ein Treffen mit dem neuen Präsidenten des Olympischen Komitees in Kabul zu arrangieren. Er gab uns ein Stück Land, auf dem wir eine Skateboardanlage bauen konnten, die Skateboarding und Bildung verbinden sollte. Ich konnte verschiedene Regierungen einbinden – die deutsche, die dänische, die norwegische. Nike engagierte sich. Dann fanden wir eine Baufirma, die die Anlage zum Selbstkostenpreis gebaut hat.

Es kam wie aus dem Nichts – diese großen Geldgeber, dieses unglaubliche Ergebnis! Und ich hatte über eineinhalb Jahre auf der Straße eine Gemeinschaft von Skateboarderinnen und Skateboardern aufgebaut, die dann plötzlich in dieser Schule waren und zu Lehrerinnen und Lehrern wurden!

Wir haben die Einrichtung im Oktober 2009 eröffnet. Es war der beste Tag meines Lebens. Es hatte so viele Sackgassen gegeben; es war nicht leicht, diese Idee zu verwirklichen. Es war absolut unglaublich, diese Mädchen zu sehen, die auf der Straße mit dem Skateboardfahren begonnen hatten. Jetzt hatten sie einen Platz, der ihnen gehörte. Und – ja, von da an wuchs das Ganze immer weiter.

Wenn sie anfangen, etwas auf dem Skateboard zu schaffen, gibt das ihnen so viel Selbstwert­­gefühl. Sie erhalten Feedback von anderen Kindern. Es ist eine neue Welt für sie im Vergleich zu ihrem Leben zu Hause. Das ist ein Gefühl von: ‚Wenn ich das tun kann, was kann ich dann noch alles?‘ Alles, was wir machen ist, diesen Gedanken zu säen.

Was ist Deiner Erfahrung nach für einen guten Neustart wichtig? 

Ich glaube, das Wichtige in Afghanistan war, dass man das Land nicht wiederaufbauen kann, wenn nur Männer die Arbeit tun. Die ganze Gesellschaft muss mitmachen. Die Idee, dass jetzt jede und jeder eine Rolle spielen kann, ist also ganz, ganz wichtig.

Ein anderer wichtiger Gedanke ist, dass man sich sehr schnell und auch komfortabel auf die eigenen festgefahrenen Pfade zurückzieht. Und wenn so etwas wie jetzt mit COVID-19 passiert, ist das eine großartige Gelegenheit, einige Dinge zu überdenken. Es gibt uns die Gelegenheit, Gründe zu hinterfragen – warum man etwas auf eine bestimmte Art und Weise getan hat und ob es noch andere Möglichkeiten gibt. Wir müssen überdenken, wie wir die Dinge tatsächlich strukturieren, und nicht einfach nur die alte Struktur beibehalten. In unserem Fall mit COVID-19 kommt eine neue, alles verändernde Technologie hinzu, die Informationstechnologie.

Wir haben begonnen, bei Skateistan Remote-Programme anzubieten. Jetzt erreichen wir in Kabul einige Schülerinnen und Schüler, die ihre Programme aus Skateistan zuhause mit anderen Kindern und ihren Familien teilen. Und dann passierte Folgendes: In vielen Familien durften nur die Jungen zu Skateistan kommen. Und jetzt, beim Fernunterricht, haben wir plötzlich auch Zugang zu den Mädchen. Wir haben die Beteiligung von Mädchen erhöht, indem wir einfach ein Remote-Programm durchgeführt haben – etwas, das wir sonst nie gemacht hätten. Wir hätten dafür sehr viel Zeit gebraucht. 

Was wird also für einen Neuanfang benötigt? Man braucht eine Menge Energie, denn es wird Sackgassen geben, wenn man etwas Neues macht. Und das kann echt schwierig sein. Man muss bereit sein, zu scheitern und Fehler zu machen. Aber das geht hoffentlich nicht über einen zu langen Zeitraum. Das passiert nur am Anfang, wenn man die ersten Schritte tut. 

Du hast selbst eine Biografie voller Neustarts. Du bist mit Deiner Familie zwischen Papua-Neuguinea und Australien hin- und hergezogen, viele verschiedene Schulen besucht, 2007 nach Afghanistan gezogen und 2014 nach Berlin. Was bedeutet ein Neustart für Dich persönlich?

Ich denke, ein Neustart bietet neue Lernmöglichkeiten. Ich lerne total gern. Und ich denke, das ist der Grund, warum ich verschiedene Jobs angenommen habe und an verschiedene Orte gegangen bin. Ich ziehe meine Energie aus den Begegnungen mit neuen Menschen und aus dem Lernen. Ein Neustart bietet viele Möglichkeiten dafür.

Außerdem helfen einem die Neustarts dabei, immer besser zu werden. Momentan bauen wir unsere fünfte Skate-Schule in Bamyan in Afghanistan – unterstützt vom deutschen Auswärtigen Amt. Im Vergleich zu den Anfangstagen, als wir unsere erste Skate-Schule in Kabul gebaut haben, ist die Arbeit jetzt wie eine völlig andere Welt. Wir haben so viel gelernt auf dem Weg! Wenn man niemals einen Neustart wagt, wird man nie anwenden können, was man gelernt hat.

Skateistan ist eine NGO mit Sitz in Berlin, die Skate-Schulen für Kinder zwischen 5 und 17 Jahren in Afghanistan, Kambodscha und Südafrika betreibt. In den Schulen wird geskatet, aber auch Bildung vermittelt. Skateistan hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, es gibt auch ein Buch und einen Film über das Projekt.