Zwischen Magie und Marktanteilen
Clémentine Lalande kennt sich mit Anfängen aus: Als CEO der Once Dating Group vermittelt sie täglich tausende mehr oder weniger romantische Begegnungen. Wir sie via Zoom getroffen und haben ihr ein paar Fragen zum Dating-Business gestellt.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – in Deutschland wird gerne Hermann Hesse zitiert, wenn es um Anfänge geht. Dann bist du als CEO von Once also auch Zauberin, denn Once erschafft jeden Tag Hunderte von Anfängen – stimmt’s?
Ja, das trifft es ziemlich genau. Wenn man sich vorstellt, wie zwei Fremde ein Gespräch anfangen, und dann der Funke überspringt… Die Zielgruppe von Once sind Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, die genau diesen Funken suchen. Das ist schon sehr ambitioniert, denn im echten Leben wird der Zauber des Anfangs ja durch den Kontext unterstützt. Vielleicht sitzt man in einem Bus und lächelt, weil der Hund da drüben etwas Lustiges macht, und plötzlich entsteht so ein Raum-Zeit-Kontinuum, in dem Menschen zusammenkommen. Online gibt es das alles nicht, man sitzt stattdessen eben nur vor dem Bildschirm.
Wir müssen diesen Zauber also irgendwie anders erschaffen. Darum geht es bei Once: Das nachzubilden, was man vielleicht bei einem Zufallstreffen im Bus oder Aufzug empfindet.
Eine Beziehung zu beginnen, kann ein ganzes Leben verändern. Spürst du eine gewisse Verantwortung für die Nutzerinnen und Nutzer von Once?
Wenn man sich die Geschäftsbedingungen jeder Dating-App anschaut, heißt es dort immer: „Nein-nein, wir sind nicht verantwortlich! Wir stellen nur eine Verbindung her, aber was auch immer danach passiert – das geht uns nicht an.“ Natürlich muss es aus rechtlicher Sicht so dastehen, denn wir kontrollieren ja nicht, was geschieht, und wissen es tatsächlich auch nicht.
Ich glaube aber, dass Dating-Apps schon dafür sorgen müssen, die bestmöglichen Bedingungen für eine sichere, einfühlsame und respektvolle Begegnung zu schaffen. Wir nehmen uns viel Zeit, um darüber nachzudenken – und darüber, wie weit wir gehen können. Die Antwort ist: Nicht sehr weit, denn die Leute müssen ja nicht berichten, was nach dem ersten oder dem zweiten Date passiert. Das liegt völlig außerhalb unserer Kontrolle. Trotzdem heißt es nicht, dass wir keine Verantwortung tragen.
Man muss moderieren und sich um die Sicherheit kümmern; man muss den Umgang mit Matching-Algorithmen und das App-Design gestalten: All das hat sehr viel mit Verantwortung zu tun. Ich habe schon immer dafür plädiert, dass Matching-Algorithmen öffentlich sein sollen. Schließlich könnte es sein, dass Algorithmen, die von 27-jährigen weißen Jungs in San Francisco entworfen werden, nicht ganz unvoreingenommen sind. Ich sage ja nur – es ist nicht ausgeschlossen. (lacht)
In den USA beginnen inzwischen 40 Prozent der Beziehungen online, unter gleichgeschlechtlichen Paaren sind es sogar 60 Prozent. In Europa hinken wir ein bisschen hinterher, aber der Trend ist der gleiche. Im Jahr 2040 sollen laut manchen Vorhersagen 70 Prozent der Neugeborenen Eltern haben, die sich online kennengelernt haben. Das muss man sich mal vorstellen! Da lastet ein Riesengewicht auf den Schultern der Dating-Anbieter. Das ist schon ein bisschen beängstigend…
Was ist der Unterschied zwischen Once und anderen Dating-Apps?
Once ist eine Slow-Dating-App. Es geht bei uns im Qualität, nicht um Quantität. Bei Once kriegt man jeden Tag um 12.00 Uhr mittags genau ein Match. Damit hat man die Muße, nachzudenken und zu entscheiden, ob man sich auf diese Person einlassen möchte. Man chattet nicht mit 27 Leuten gleichzeitig. Klar kann man das versuchen, und die Allermeisten haben es ja auch mal versucht. Aber da Gesprächsqualität hinzubekommen – das ist wirklich schwierig. Und der Zauber geht eben verloren.
Katalogkonzepte wie Tinder sind anstrengend, zeitaufwendig und führen zum FOMO-Syndrom (Anmerkung der Redaktion: FOMO = „fear of missing out“, die Angst etwas zu verpassen). Ist die nächste Person in der Liste vielleicht der oder die Richtige? Die typischen Nutzerinnen und Nutzer von Once haben ein paar Jahre Tinder hinter sich und sind nach dieser Erfahrung ausgebrannt, sowohl die Männer als auch die Frauen. Dieses Burnout-Gefühl haben sie aus unterschiedlichen Gründen, aber sie kommen alle zu demselben Schluss: So geht es nicht weiter.
Tinder ist heute im Grunde ein Synonym für Online-Dating. Es gibt aber auch andere: Bumble hatte erst kürzlich einen sehr erfolgreichen Start an der New Yorker Börse. . Kannst du uns ein bisschen über die Marktstruktur von Dating-Diensten erzählen?
Ich denke, der Dating-Markt ist schon sehr lukrativ. Nicht, dass ich es deswegen mache, es wird aber eben oft unterschätzt, wie gut es den Top-Unternehmen in diesem Bereich geht. Die Marktstruktur ist sehr spezifisch, sehr konzentriert. Im Grunde besitzen fünf Unternehmen fast drei Viertel der Dating-Apps.
Auch ist Tinder kein Start-up, obwohl Leute es so wahrnehmen. Es ist eine Art Intrapreneur-Initiative, angeführt von IAC und deren Tochter Match Group. Die Match Group ist der größte Player mit einem gigantischen Anteil: ein Drittel des Marktes. Sie hat ein Portfolio von 50 Dating-Apps, die alle möglichen Segmente wie Altersgruppen, Regionen, Sexualitäten und Vorlieben abdecken.
Wir wurden vor ein paar Monaten von mehreren Interessenten gleichzeitig gefragt, ob wir unser Unternehmen nicht verkaufen wollten. Wir waren profitabel, wir hatten Geld, wir mussten also nicht unbedingt verkaufen. Aus dieser Position heraus ist es schön, diese Gespräche zu führen. Am Ende haben an eines der großen Unternehmen verkauft, die Dating Group. Auch sie hat ein Portfolio von unterschiedlichen Marken, was auf diesem Markt sehr sinnvoll ist.
Nun ist letztes Jahr die Coronapandemie ausgebrochen – nicht die ideale Zeit für Dating, scheint es. Wie hat sich eure Arbeit vergangenes Jahr verändert?
Als die Krise Europa traf, sagten mir alle – Freunde, Investorinnen und Investoren, andere Start-up-CEOs – „Verdammt, jetzt geht bestimmt selbst Tinder pleite“. Das ist ja die naheliegende Vermutung: Du kannst dich eh nicht mit Leuten treffen, wozu also ein Dating-Service?
Was aber passierte, war genau das Gegenteil. Nicht sofort nach den Lockdowns, aber etwa eine Woche später begannen die Zahlen für uns in jedem Land zu steigen – und zwar um 20 bis 45 Prozent, je nach Land und Woche. Warum? Ich denke, ein Grund ist dies: Liebe ist ein unerlässliches Gut. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland auch so war, aber in Frankreich gab es diese Debatte darüber, was unerlässlich ist und was nicht, um zu definieren, welche Menschen und Geschäfte der Lockdown betreffen soll. Und Liebe ist eben unerlässlich. Gefühle sind unerlässlich. Menschen plädierten ganz instinktiv dafür: „Ich muss mit anderen reden können.“ Und Once-Nutzerinnen und Nutzer sagten: „Mit meinem Match des Tages werde ich hoffentlich ein paar Witze reißen können oder um 19.00 Uhr einen kleinen Aperitif trinken – selbst wenn wir das nicht persönlich tun können. Aber genau darum brauche ich doch unbedingt Leute zum Reden.“
Daraufhin haben wir – als erster Anbieter – eine Video-Option in die App integriert. Das heißt, man ist nicht auf den Chat beschränkt, sondern kann auch zu einem Videoanruf übergehen, ohne gleich die WhatsApp-Nummer oder die E-Mail zu verraten. Das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum wir während der Pandemie mehr Traffic sehen. Ohne das Virus hätten wir wohl nie eine Video-Option angeboten – das macht man ja eher in dem Teil des Marktes, der für flüchtigere Beziehungen sorgt. Wir gestalten das Ganze natürlich ein bisschen anders. Die Video-Option erfordert bei uns eine beidseitige Zustimmung und eine bestimmte Anzahl von Chats mit der anderen Person. Man kann nicht einfach so von irgendjemandem angerufen werden.
Um wieder auf das Thema „Anfänge“ zu kommen: Wie begann deine Geschichte als Gründerin?
Ich wurde von einem der Mitgründer angesprochen. Er hatte eine Dating-App entwickelt und hatte auch jede Menge Erfahrung mit diesem Markt – aber nicht so viel Geschäftserfahrung. Ich wiederum hatte einen Business-Hintergrund und auch schon ein paar Jahre Erfahrung auf diesem Feld. Um dieses Marktsegment besser kennenzulernen, habe ich mich dann erstmal bei allen Apps angemeldet und mit Leuten gechattet.
Dabei habe ich schreckliche Erfahrungen mit diesen Dating-Apps gemacht, wirklich schlimm. Da wurde ich, sagen wir, an einem Donnerstagmorgen um 11 Uhr von wildfremden Menschen beleidigt. Ich habe ekelhaft explizite Fotos zugeschickt bekommen. Im echten Leben würde ich nie zulassen, dass jemand so mit mir redet. Aber wie kann man sich als Nutzerin einer Dating-App überhaupt schützen? Okay, es gibt den Button „Melden“. Aber man ist eigentlich ziemlich hilflos, und das hat mich wirklich wütend gemacht. Die Benachrichtigungen, die ich bekommen habe, waren in der Art von „du hast 8.583 Matches, juhu!“ Soll das etwa eine gute Nachricht sein? Echt jetzt? Was heißt das denn? Dass ich vier Stunden am Samstagnachmittag damit verbringen soll, die Matches zu sortieren? Da müsste man schon sehr verzweifelt sein. Ich wollte das nicht.
An diesem Punkt habe ich auch von Once eine Auszeit genommen und mich für etwa ein Jahr in anderes Abenteuer gestürzt, zum gleichen Thema. Ich habe etwas Funding mitgenommen, mich mit zwei Entwicklerinnen zusammengetan und gesagt: „Okay, tun wir etwas! Wir Frauen verdienen eine bessere Behandlung, also lasst uns die Regeln neu schreiben.“ So wurde Pickable ins Leben gerufen.
Kurz gesagt ist Pickable eine feministische App. Sie kehrt alle Dating-Regeln um: Das heißt, wenn du als Frau auf Pickable gehst, musst du keine Daten angeben, nur deine Rufnummer zu Sicherheitszwecken, keine Bilder, keinen Namen, kein Alter, nichts. Dann kannst du dir all die Typen anschauen. Du bekommst nicht tausende von Benachrichtigungen, niemand kann dich anpingen – nur wenn du dich entscheidest, mit jemandem zu sprechen. Erst dann musst du ein Bild schicken und dich verifizieren, und dann kannst du anfangen, mit der Person zu sprechen.
Das war 2018. Wir haben sechs Monate für die Produktentwicklung gebraucht. Wir starteten in Frankreich, Deutschland, im Vereinigten Königreich, in Italien, in der Schweiz und in Österreich. Die Berichterstattung war erstaunlich, und die Reaktionen sehr empathisch. Die App funktioniert immer noch. Irgendwann haben wir uns entschlossen, sie wieder an Once zu verkaufen, und später wurde ich dann CEO der Gruppe. Jetzt leite ich Once und Pickable, die beide das gleiche Ziel haben – nämlich den Status Quo im Dating herauszufordern. Und das macht wirklich Spaß und ist ziemlich aufregend.
Vielen Dank für das Gespräch, liebe Clémentine!
Ihre berufliche Laufbahn startete Clémentine Lalande zunächst als Strategieberaterin bei der Boston Consulting Group in Paris. Mittlerweile verfügt sie über mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung in der Technologie- und Unternehmensentwicklung. Als Mentorin unterstützt sie Start-up-Gründerinnen und -Gründer verschiedener Netzwerke und teilt ihre Erfahrungen. Im Jahr 2019 übernahm sie die Geschäftsführung der Once Dating Group.