In der Kribbelzone
Nicola Schmidt ist Gründerin und Geschäftsführerin des Artgerecht- Projekts sowie Bestseller-Autorin von Ratgebern zum Thema Kinder und Familie. Wir haben sie gefragt, wie man Mutigsein trainiert.
Frau Schmidt, fangen wir mal ganz vorne an: Sind alle Kinder gleich mutig, wenn sie geboren werden?
Ja! Alle Kinder sind zum Zeitpunkt ihrer Geburt gleich mutig. Es ist jedoch so, dass Kinder unterschiedlich auf Stress reagieren, wenn sie geboren werden. Das kennen wir alle auch von Erwachsenen oder auch von Mitarbeitern. Es gibt solche, die sagen: „Das probieren wir aus, passiert schon nichts.“ Und es gibt andere, die beim kleinsten Widerstand, bei der kleinsten Schwierigkeit sagen: „Ach, lieber doch nicht! Das geht bestimmt schief.“ Diese Leute haben ein sehr reaktives Stresssystem. Nichtsdestotrotz: Alle Menschen werden mutig geboren! Wir müssen mutig geboren werden, denn nur so können wir unsere kindlichen Entwicklungsaufgaben überhaupt bewältigen. Das heißt, der Trick bei der Erziehung, oder auch bei der Selbsterziehung als Erwachsener – wir stecken ja auch in einem Prozess des lebenslangen Lernens – ist, dafür zu Sorgen, dass wir oder unsere Kinder den Mut nicht verlieren.
Sie schreiben in Ihrem Buch „Mut: Wie Kinder über sich hinauswachsen“ vom Mut als Muskel. Wie trainiert man den Muskel Mut, wie bleibt man mutig?
In der Erziehung tun wir das, indem wir unseren Kindern keine Angst machen. Wenn wir ständig sagen: „Pass auf! Komm da runter! Lass das!“, dann ist es schwierig für die Kinder, den Mut zu behalten. Und wir trainieren Mut – und da sprechen wir von Kindern wie von Erwachsenen – indem wir dem Gegenüber nicht ständig sagen, was alles Blödes passieren kann und was er alles nicht machen soll. Stattdessen sagen wir, was möglich ist und was er tun soll. Also sagen Sie Ihren Kindern nicht: „Pass auf, fall nicht hin!“, sondern sagen Sie: „Sei achtsam, halt Dich fest!“. Und so sage ich auch meinen Mitarbeitern nicht: „Mach bloß das und das nicht, da könnte etwas Schlimmes passieren!“, ich sage: „Okay, wenn du diesen Prozess anstößt, achte gut darauf, dass du jenes im Blick behältst – und wenn das und das passiert, halte noch mal Rücksprache mit mir.“ Wie auch meinen Kindern versuche ich meinen Mitarbeitern das Gefühl zu vermitteln: Im Zweifelsfall stehe ich direkt hinter dir.
Der Trick ist, dafür zu Sorgen, dass wir oder unsere Kinder den Mut nicht verlieren.
Gemeinhin gilt ja: Viel mehr Wirkung als das, was wir sagen, hat das, was wir vorleben. Wie können wir denn Mut vorleben?
Wenn Kinder aufs Gerüst klettern, merken die sofort, ob wir Eltern Schnappatmung kriegen. Kindern lebe ich Mut vor, indem ich sie ihre Erfahrung machen lasse und immer eine Hand drunter halte, falls was passiert – ansonsten aber ruhig bleibe. Kindern kann ich Mut vorleben, in dem ich zum Beispiel – ganz banal – sage: „Hui, ich hab bestimmt seit hundert Jahren keinen Mistkäfer mehr angefasst. Ich glaube, ich finde das gruselig und krabbelig! Aber eigentlich kann ja nichts passieren. Komm, ich halt die Hand hin – du auch, okay?“ Später kann man Kindern Mut beibringen, indem man sagt: „Weißt du was, wir beide gehen jetzt mal ganz mutig zum Kellner hin und sagen: Diese Spaghetti sind kalt. Können Sie uns bitte heiße Spaghetti bringen?“ Bitten und fragen gehören ja zum Mutigsein dazu und das sind Dinge, die wir im Alltag ständig vorleben können.
Gibt es denn ein gewisses Maß an Mut, das gesund ist – und danach kommt der Übermut, der ja laut Volksmund selten gut tut?
Schon die alten Römer unterscheiden ja zwischen virtus, also dem tugendhaften Mutigsein, und audacia, dem Wagemut, der uns in Gefahr bringt. Die Schwelle zwischen Mut und Übermut ist immer da, wo ich anfange, unkalkulierbare Risiken einzugehen. Mut ist so lange klug, so lange ich das Risiko – also die Kribbelzone, in die ich mich begebe, zwischen Bekanntem und Unbekanntem – überblicken kann. Wenn ich anfange, unkalkulierbare Risiken einzugehen, bin ich nicht mehr mutig, sondern wagemutig und da hätten die antiken Denker wohl die Nase gerümpft und gesagt: Das ist weder mutig noch klug und insofern vollkommen indiskutabel.
Bei Jugendlichen kulminiert das Ganze häufig in gefährlichen Mutproben. Gibt es dafür eine Prävention?
Kinder brauchen ein gewisses Maß an Kribbelrisiko. Wenn die das nicht kriegen, fangen die an, Unsinn zu machen – Mutproben. Man kann dem vorbeugen. Meine Kinder zum Beispiel gehen mit mir segeln. Die sind schon ein bisschen größer und reizen mittlerweile auch gern mal aus, was so eine Zehn-Tonnen-Yacht an Wind vertragen kann. Und das kribbelt! Das ist aufregend! Das brauchen Kinder. Wenn Kinder diese Möglichkeit nicht haben, sich zu zeigen, sich zu überwinden, das auszuleben; wenn sie nie im Wald zelten oder nie in den eiskalten See springen oder auf einem Surfbrett stehen, wenn die nie klettern können und nie erfahren, welche Kräfte auf sie bei einem Sprung vom Scheunendach wirken, dann fangen sie irgendwann an, Mutproben zu machen. Geben Sie Kindern Räume, wo sie – altersgerecht auch schon bei kleinen Kindern – kleine, legale Mutproben machen können. Das kann natürlich nicht alles verhindern. Je nach dem, wie groß etwa der Druck der Peer Group ist. Und auch je nach dem, ob ein Kind gelernt hat, dass es nicht nur dann geliebt wird, wenn es den Anforderungen anderer folgt. Aber man kann Kinder stark machen.
Und als ängstlicher Erwachsener? Hilft es mir dann auch, im Wald zu übernachten?
Wenn Sie ein sehr ängstlicher Erwachsener sind, würde ich Ihnen immer raten, sich professionelle Hilfe zu suchen und herauszufinden: Warum habe ich so eine Angst? Warum habe ich nicht die Sicherheit, die meiner Körpergröße von 1,80 Meter und 85 Kilo eigentlich entsprechen würde? Was triggert mein Stresssystem? Da würde ich immer auf Ursachenforschung gehen. Aber auch so mancher ängstliche Erwachsene hat schon Schritt für Schritt beim Berg-und-Tal-Fahrradfahren gelernt, dass er viel mehr Koordinationsfähigkeit, Kraft und Konzentration hat, als er dachte.
Welche Mittel und Wege gibt es im Unternehmen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ermutigen?
Eine wichtige Sache ist immer die Fehlerkultur in Ihrem Unternehmen. Mitarbeiter sind dann mutig, wenn sie wissen, dass sie nicht geköpft werden, wenn sie Fehler machen. Mitarbeiter sind dann mutig, wenn man sie genau den Schritt weiter lockt, als ihre Komfort- Zone ist – aber nicht ins kalte Wasser schmeißt. Schritt für Schritt. Sie brauchen eine gute Feedbackkultur, in der man Schwierigkeiten offen ansprechen und zum Beispiel Aufgaben nachjustieren kann. Ohne Angst.