Neuausrichtung des Wohlstandes: Ein Appell für eine umfassendere Messung

Vom Fachkräftemangel bis zum Klimawandel – Deutschland und die Welt stehen vor großen Herausforderungen und um diese zu bewältigen, bedarf es politischer Anstrengungen, die auf kollektiven Werten beruhen und gesellschaftliche Ziele verfolgen. Damit das Streben nach Wohlstand nicht den sozialen Zusammenhalt oder die Zukunft gefährden, sollte Wohlstand neu definiert und gemessen werden. Denn wirtschaftlicher Erfolg reicht als Maßstab nicht aus. Es sollten auch andere Dimensionen des Wohlstands wie soziale Teilhabe und ökologische Nachhaltigkeit berücksichtigt werden.

von Katharina Lima de Miranda

Bruttoinlandsprodukt als Leitindikator?

© GettyImages/Peter Mason

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gibt die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum, meist eines Jahres, wieder. Dabei wird die Wertschöpfung, also der Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen, gemessen. Seine Veränderungsrate dient als Messgröße für das Wirtschaftswachstum. Seit seinem Triumphzug in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor der von Entscheidungsträger:innen am meisten priorisierte Indikator für den vermeintlichen Erfolg und Fortschritt von Nationen. Doch andere Aspekte des Wohlstands wie die Umwelt oder soziale Gerechtigkeit geraten durch die Priorisierung des BIPs schnell in den Hintergrund und werden nicht angemessen beachtet. Tatsächlich bedeutet scheuklappenartig fokussiertes Streben nach Wirtschaftswachstum oft eine Verschlechterung wichtiger Determinanten von nachhaltiger Lebensqualität – wie zum Beispiel den Verbrauch natürlicher Ressourcen und Verlust der biologischen Vielfalt, aber auch wachsende ökonomische und soziale Ungleichheiten. Viele negative Auswirkungen wie Umweltverschmutzung oder soziale Isolation werden vom BIP nicht erfasst.

Genau vor diesem Hintergrund forderte der UN-Generalsekretär kürzlich „neue Metriken zur Ergänzung des BIP, damit die Menschen ein umfassendes Verständnis für die Auswirkungen unseres Handelns entwickeln können, und erkennen, wie wir besser handeln können und müssen, um Menschen und unseren Planeten zu unterstützen.“ Denn in einer leistungsorientierten Gesellschaft beeinflussen die von uns gewählten Metriken unser Handeln. Nobelpreisträger wie Joseph Stiglitz und Amartya Sen betonen, dass falsche Maßstäbe zu unerwünschten Ergebnissen führen können. Metriken fassen nicht nur Sachverhalte zusammen, sondern informieren auch über die Umsetzung von politischen Programmen. Zusätzlich werden sie in zunehmendem Maße präskriptiv für die Gestaltung und Umsetzung evidenzbasierter Politikmaßnahmen eingesetzt. Es besteht also die Gefahr, dass unsere Messmethoden entweder irrelevante Konzepte betonen oder wichtige Aspekte nur ungenügend berücksichtigen.

Diverse europäische Länder, darunter Deutschland, haben bereits Schritte unternommen, um alternative Indikatoren zu entwickeln und einzuführen. So wurde unter andrem der Jahreswirtschaftsbericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) im Jahr 2022 um ein Sonderkapitel „Nachhaltiges und integratives Wachstum“ ergänzt, um eine multidimensionale Perspektive auf Wohlstand jenseits des BIP zu integrieren. Wiederaufgegriffen in 2023 enthält der Bericht nun 34 Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsindikatoren, die in verschiedene Wohlstandsdimensionen unterteilt sind und wirtschaftliche Leistung, soziale Gerechtigkeit und Teilhabe, Zukunftsfähigkeit und ökologische Grenzen umfassen.
Doch obwohl die Einführung solcher Indikatoren ein positiver Schritt ist, bedeutet ihre Existenz nicht automatisch, dass sie in der politischen Praxis Anwendung finden. Es sind koordinierte Anstrengungen auf nationaler und internationaler Ebene erforderlich, um sicherzustellen, dass diese Indikatoren tatsächlich zur Gestaltung der Politik beitragen. Eine weitere Schlüsselkomponente für den Erfolg ist die Einbindung der Bevölkerung. Denn Indikatoren sollten die tatsächlichen Bedürfnisse und Werte der Menschen widerspiegeln, und Politikgestaltung sollte von einem breiten gesellschaftlichen Konsens unterstützt werden. Ein derartiger Prozess ist dem kleinen Bergstaat Bhutan gelungen. Bhutan hat den Ansatz des „Brutto-National-Glücks“ – ein ganzheitliches Maß, das verschiedene Dimensionen des Wohlergehens umfasst – partizipativ entwickelt. Der Index wird nun seit Jahren ressortübergreifend für evidenzbasierte Politik verwendet und fließt zum Beispiel in den Fünfjahresplan und die Ressourcenallokationsformel des Königreichs ein.

Die soziale Dimension

Leider spielen in vielen Wohlstandsmessungen, wie auch dem Jahreswirtschaftsbericht, gemeinschaftsbezogene Indikatoren wie Solidarität, sozialer Zusammenhalt und soziale Teilhabe oft keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Doch die soziale Dimension ist sowohl ein konstitutiver Bestandteil des menschlichen Wohlbefindens als auch ein Mittel für sozioökonomische Veränderungen. Das soziale Wohl der Gesellschaft – verstanden als Zusammenhalt unter den Menschen und die Fähigkeit jedes Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu führen – ist nicht nur an sich wertvoll, sondern auch entscheidend für die Meisterung von gesellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawandel. In einer gespaltenen Gesellschaft wird es schwieriger sein, eine allgemein akzeptierte Klimapolitik umzusetzen als in einer solidarischen. Initiativen wie das Recoupling Dashboard berücksichtigen solche gemeinschaftsbezogenen Indikatoren in ihrer multidimensionalen Wohlstandsmessung.
Das Recoupling Dashboard misst das gesellschaftliche Wohlergehen von Gesellschaften über das BIP hinaus und veranschaulicht die Wechselwirkungen von wirtschaftlichem Wohlstand, sozialer Wohlfahrt und ökologischer Nachhaltigkeit. Es basiert auf einem empirischen, interdisziplinären Verständnis menschlicher Bedürfnisse und Ziele und erfasst die grundlegenden Dimensionen des menschlichen Wohlbefindens anhand von vier Indizes – Solidarity, Agency, Material Gain und Environmental Sustainability (SAGE). Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der sozialen Wohlfahrt, welche anhand zweier innovativer Indizes (Agency und Solidarity) gemessen wird. Agency (Handlungsfähigkeit) misst die Fähigkeit, das eigene Leben aus eigener Kraft zu beeinflussen. Solidarität misst die Einbettung in die relevanten gesellschaftlichen Gruppen, das heißt das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Schutz, sowie sinnstiftender sozialer Aufgaben und Teilhabe. Dabei sind sowohl die nach innen als auch die nach außen gerichtete Solidarität wichtig. Während die nach innen gerichtete Solidarität entscheidend für den sozialen Zusammenhalt im engen sozialen Umfeld ist, ermöglicht die nach außen gerichtete Solidarität den Willen zur Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, Nationen und Kulturen. Das Recoupling Dashboard zeigt unter anderem die Entkopplung von wirtschaftlichem und sozialem Wohlergehen von Gesellschaften auf und bietet somit eine empirische Grundlage für die Mobilisierung von Maßnahmen um wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in Einklang zu bringen.

Fazit

Bei der Umsetzung solcher Konzepte gibt es jedoch immer noch große Herausforderungen. Einige dieser Herausforderungen sind methodischer Natur, wie die Identifizierung geeigneter Indikatoren und die Sammlung zuverlässiger Daten. Andere betreffen die Akzeptanz und Umsetzung auf politischer Ebene, wo wirtschaftlicher Fortschritt oft immer noch im Vordergrund steht. Diese Hürden müssen überwunden werden, um einen Paradigmenwechsel hin zu einer nachhaltigeren und inklusiveren Perspektive auf Wohlstand zu erreichen.
Im Hinblick auf die Vielzahl von Vorschlägen und Innovationen auf globaler Ebene wird auch die Abstimmung bestehender Bemühungen immer wichtiger. Derzeit gibt es keinen internationalen Standard für diese alternativen Wohlstandsmessungen, was einen länderübergreifenden Vergleich erschwert. Es besteht daher dringender Bedarf an einem kohärenten Ansatz, der Leitindikatoren für gesellschaftliches Wohlergehen, wirtschaftlichen Wohlstand und ökologische Nachhaltigkeit beinhaltet. Denn die Art und Weise, wie wir Wohlstand definieren und messen, hat direkte Auswirkungen auf unsere Politik, unsere Prioritäten und letztlich auf das Leben der Menschen. Es ist an der Zeit, dass wir über das BIP hinausdenken und eine breitere, inklusivere und nachhaltigere Vision von Wohlstand verfolgen.

© Miranda

Katharina Lima de Miranda (38) forscht am Kiel Institut für Weltwirtschaft zur Frage, wie sich verhaltensökonomische Erkenntnisse auf eine nachhaltige soziale Entwicklung anwenden lassen. Als Teil eines interdisziplinären Forschungsprojekts ist sie Mitentwicklerin des Recoupling Dashboards, das verschiedene Dimensionen von Wohlstand jenseits des Bruttoinlandsprodukts misst. Sie ist außerdem Monitoring, Evaluation and Learning Manager bei der Hanns R. Neumann Stiftung.