Arbeiterkinder: Unterschätzte Potenziale anerkennen und aktiv fördern
Ich bin die erste aus meiner Familie, die einen Studienabschluss erreicht hat. Dass das Elternhaus, und vor allem der Bildungshintergrund der Eltern, den eigenen Lebensweg beeinflusst, habe ich schon in der Schule erfahren. Als ich dann nach der Schule mein Studium begonnen habe, ist mir immer öfter aufgefallen, dass es einige meiner Komiliton:innen etwas leichter hatten als ich. Bei der ersten Hausarbeit konnte eine Freundin beispielsweise einfach ihren Vater um Hilfe bitten, der bereits drei Bücher veröffentlicht hatte, ich hingegen hatte diese Möglichkeit nicht. Ich hatte damals auch noch nie von Stipendien oder anderen Möglichkeiten der Studienfinanzierung gehört.
Situationen wie diese sind vielen Erstakademiker:innen bekannt und deuten auf ein strukturelles Problem im deutschen Bildungssystem hin. Folgende Zahlen verdeutlichen dies: Derzeit schaffen 79 von 100 Kinder aus Akademikerhaushalten den Übergang an die Hochschule, aber nur 27 von 100 Arbeiterkindern (Hochschulbildungsreport 2020). Um mehr Menschen aus nichtakademischen Familien den Zugang zur Hochschule zu erleichtern, haben wir im Jahr 2008 ArbeiterKind.de gegründet. Seitdem bieten wir mit unserer gemeinnützigen Organisation kostenlose Informationen und ehrenamtliche Unterstützung für Schüler:innen und Studierende der ersten Generation an. Besonders stolz sind wir auf den Austausch zwischen Studierenden und unseren Ehrenamtlichen, die meist selbst Studierende der ersten Generation sind. Durch Informationsveranstaltungen in Schulen, offene Treffen und Mentoring geben diese ihr Wissen und ihre Erfahrungen an Schüler:innen und Studierende weiter, egal ob zum Studienbeginn, Studium oder dem Berufseinstieg. Wir sind nun schon seit 15 Jahren aktiv und haben ein Netzwerk aus tausenden Ehrenamtlichen in rund 80 lokalen Gruppen. Dass es so eine große Nachfrage gibt, führt uns immer wieder vor Augen, wie wichtig es ist, Schüler:innen und Studierenden Mut zu machen, den eigenen Studienstart zu wagen und sie dabei zu unterstützen.
Gerade deswegen ist es so wichtig, dass die Charta der Vielfalt soziale Herkunft seit 2021 als eine weitere Dimension der Diversität anerkennt und damit Chancengerechtigkeit befördert, indem der Habitus, oder auch Stallgeruch, des sozioökonomischen Milieus in den Hintergrund tritt. So wird ein wichtiger Impuls an Unternehmen gegeben, unterrepräsentierte Gruppen und Perspektiven besser in unsere Arbeitswelt zu integrieren und ihr bislang unterschätztes Potenzial anzuerkennen. Unternehmen, die Diversität wertschätzen und aktiv fördern, sind resilienter, flexibler und innovativer. Unternehmen haben vielfältige Möglichkeiten, sich für soziale Mobilität einzusetzen. Das beginnt schon bei den firmeninternen Einstellungskriterien. Klassische Kriterien wie Auslandsaufenthalte oder ein sehr guter Studienabschluss setzen finanzielle Stabilität voraus, die nicht jedes Elternhaus gewährleisten kann, weshalb einige gezwungen sind, neben dem Studium zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können. Dies kann das Studium verlängern und erschweren, aber bringt dafür viele andere Qualifikationen mit sich, wie ein hohes Durchhaltevermögen, Resilienz und Motivation. Es gilt ein Auge für diese Potenziale zu entwickeln, die aus dem klassischen Lebenslauf nicht immer direkt ersichtlich sind.
Ein weiterer Weg ist es, selbst aktiv zu werden und die eigenen Erfahrungen im Rahmen eines Mentoring weiterzugeben. Fragen wie, wie man am besten seine Bewerbungsunterlagen vorbereitet, wie man sich ein Netzwerk von Kontakten aufbaut, wie man sich am besten auf Gehaltsverhandlungen vorbereitet oder wie man überhaupt geeignete Stellen findet, sind ganz übliche Fragen, mit denen vor allem Kinder aus einem nichtakademischen Haushalt zu kämpfen haben, da sie oft keinen in ihrer Familie haben, der Erfahrungen aus einem akademischen Arbeitsumfeld weitergeben kann. Da macht es schon einen großen Unterschied, jemanden zu haben, der einem mit Tipps und Tricks zur Seite steht. Manchmal braucht es auch gar nicht mehr, als das persönliche Selbstbewusstsein zu stärken.
Ich hatte auf meinem persönlichen Bildungsweg das Glück, an Leute zu geraten, die mich gefördert und gefordert haben. Da nicht alle dieses Glück haben, braucht es mehr Menschen,
die sich dafür einsetzen, dass Schüler:innen, Studierende und Berufseinsteiger:innen aus nichtakademischen Elternhäusern mehr Unterstützung auf ihrem Bildungs- und Karriereweg erhalten, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft!
Autorenprofil
Katja Urbatsch studierte Nordamerikastudien, BWL und Kommunikationswissenschaft an der FU Berlin und der Boston University. 2008 gründete sie die Organisation ArbeiterKind.de. Diese unterstützt Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern auf ihrem Weg an die Hochschule. Mehrfach wurde die Organisation ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Engagementpreis. Für ihr Engagement für Bildungsgerechtigkeit erhielt Urbatsch 2018 das Bundesverdienstkreuz am Bande.