Anders ist nicht falsch

Er, sie, es abseits der Norm: Wer neurodivergent ist, „tickt” vielleicht anders als die Mehrheit. Das muss aber nicht unbedingt ein Nachteil sein – wenn die Mehrheit das zulässt.

Neurodiversität, neurologische Vielfalt, beschreibt, dass jeder Mensch ein eigenes neurologisches Profil und damit eine individuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung hat. Die gesamte Persönlichkeit wird dadurch geprägt: die spezifische Art des Lernens, Denkens, Fühlens, die Motorik, Interaktion, Sprache, das Handeln. Während der Großteil der Bevölkerung sich ähnelnde neurologische Profile hat (neurotypisch), gibt es um die 20 Prozent, deren Profile davon deutlich variieren (neurodivergent). Die Zahl ist ungenau, da es noch keinen Konsens darüber gibt, was dazugezählt wird: AD(H)S, Autismus-Spektrum-Störungen, Dyskalkulie*, Dyslexie*, Dyspraxie*, Tourette können unter andrem unter den Begriff Neurodiversität fallen. Was Neurodivergenz für eine Person im Alltag und Arbeitsleben bedeutet, ist sehr verschieden. Kennst Du eine*n, kennst Du eine*n! Individuelle Kompetenzen und Bedürfnisse verschwinden jedoch allzu häufig hinter verallgemeinernden Vorannahmen – „Autist*innen sind gut in IT-Berufen, wollen lieber für sich allein sein“, „ADHSler*innen können sich nie konzentrieren und nicht stillsitzen“ und so weiter.

Neurodiversität und Arbeit

In unterschiedlichsten Branchen, auf verschiedensten Positionen, arbeiten neurodivergente Menschen. Mit oder ohne Diagnose und häufig auch, ohne es selbst zu wissen. Gleichzeitig sind Gesellschaft und Arbeitsleben ausgerichtet an der (neurotypischen) Mehrheit, was häufig gleichgesetzt wird mit „normal“, „richtig“ oder „angemessen“ und der Annahme, dass alle sich danach richten und daran anpassen können. Das betrifft zum Beispiel die Einrichtung und Gestaltung von Arbeitsorten, Kommunikationswege und -formen, Abläufe und Prozesse, die Erwartungen an Interaktion während und außerhalb der Arbeitszeit und vieles mehr. Neurodivergente Menschen arbeiten dadurch häufig nicht entsprechend ihren Kompetenzen und Qualifikationen, oder sie schaffen den Sprung ins Berufsleben nicht, beziehungsweise nicht dauerhaft. Viele haben hervorragende Fähigkeiten, aber die klassischen, neurotypisch geprägten Bildungswege und Arbeitsbedingungen erlauben ihnen nicht, diese unter Beweis zu stellen. Als Folge ist die Arbeitslosigkeit neurodivergenter Menschen um ein Vielfaches höher als im Rest der Bevölkerung.

Neurodiversität im Unternehmen

Neurodiversität ist komplex und erfordert die Bereitschaft, sich kritisch mit eigenen Vorannahmen auseinanderzusetzen. Manches, was zum Beispiel in Kompetenzen, Verhalten oder Kommunikation offensichtlich scheint, kann durch eine andere Sicht neu interpretiert und eingeordnet werden. Es braucht Offenheit und Verständnis dafür, dass Menschen unterschiedlich wahrnehmen, denken und handeln und dass daraus sowohl verschiedene Bedürfnisse als auch wertvolle Perspektiven und Fähigkeiten resultieren. Informationen und Wissen helfen, eigene Vorstellungen, Stereotype und Werte zu reflektieren. Neurologische Vielfalt zu fördern erfordert Arbeitsbedingungen, die es ermöglichen, die individuellen Potentiale jeder Person zu entfalten. Fragen, was individuell gebraucht wird. Aufgeschlossenheit dafür, zusammen neue Wege zu finden (etwa um Aufgaben zu erledigen), anstatt darauf zu bestehen, dass alle es auf die gleiche Art und Weise tun.

Barrieren beseitigen

Hilfreich sind Transparenz, ehrliche und offene Kommunikation, insbesondere auch hinsichtlich Erwartungen, häufiges und regelmäßiges Feedback und eine gute Einarbeitung, am besten mit festem/r Ansprechpartner*in oder Mentor*in. Menschen brauchen Unterschiedliches, auch bei ähnlicher neurologischer Ausprägung. Was die einen stört, nehmen andere vielleicht nicht einmal wahr. Während die eine Person am besten in völliger Ruhe arbeitet, braucht die andere einen gewissen Geräuschpegel; die einen mögen täglich neue Aufgabenverteilungen, andere viel Vorhersehbarkeit; einige besprechen sich gerne schnell zwischendurch, andere mögen es lieber schriftlich, und so weiter. Schon kleine Änderungen können erste Auswirkungen zeigen. Die Wahl von Schriftart, -größe und -abstand kann hilfreich oder hinderlich sein. Bei Reizsensibilität können ein Hörschutz oder eine getönte (Sonnen-)Brille helfen. Die freie(re) Gestaltung von Arbeitszeiten und Pausenregelungen kommen dem individuellen Biorhythmus und Verfassung entgegen. In Besprechungen nebenbei zu zeichnen, vielleicht auch Stressbälle oder andere Utensilien zu nutzen, kann die Konzentration fördern. Die Liste der möglichen Maßnahmen lässt sich je nach Bedürfnissen und Gegebenheiten erweitern.

Neurodiverse Teams arbeiten effektiver

Neben den grundsätzlichen Vorteilen divers zusammengesetzter Teams, liegen die Stärken eines neurodiversen Teams langfristig in der Verbesserung von Zusammenarbeit, Effektivität und Produktivität. Denn von vielen der abgeschafften Barrieren profitieren alle Mitarbeitenden. Nachweislich wird zum Beispiel die Kommunikation untereinander besser, Abläufe werden transparenter, Absprachen klarer. Darüber hinaus haben neurodivergente Mitarbeiter*innen häufig eine andere Herangehensweise und Sicht auf die Dinge als die neurotypische Perspektive. Werden sie gehört, können sie zu mehr Kreativität, Innovation und Qualitätssicherung beitragen.

Große Unternehmen gehen voran

Neben einzelnen Dienstleistern, Hotels, Einzelhandel etc. beschäftigen sich auch immer mehr große Unternehmen ausdrücklich mit Neurodiversität. Dazu zählen etwa SAP, JPMorgan, Microsoft, Deloitte, IBM und weitere mehr. Sie weichen ab von klassischen Bewerbungsprozessen, schaffen teils extra zugeschnittene Bewerbungs- und Onboarding-Strukturen, sie finden flexible Modelle für die Gestaltung von Arbeit. Vor allem etablieren sie eine Unternehmenskultur, die den offenen Umgang mit Neurodiversität ermöglicht und unterschiedlichste Denk- und Handlungswege berücksichtigt und fördert. Sie haben das Potenzial neurodiverser Teams erkannt. Denn es braucht unterschiedlichste Perspektiven und Erfahrungen, vielfältiges Wissen und differenzierte Herangehensweisen, um den Aufgaben der heutigen Zeit zu begegnen.

Anja Pieper ist Projektmanagerin und vor allem Coach, Trainerin und Diversity-Beraterin mit dem Schwerpunkt Neurodiversität, Autismus und Arbeit.

www.gemeinsam-klären.de

Glossar

  • Dyskalkulie – im allgemeinen Sprachgebrauch: Rechenstörung
  • Dyslexie – im allgemeinen Sprachgebrauch: Lese-Rechtschreibstörung
  • Dyspraxie – Schwierigkeiten, Bewegungen und Handlungen zu planen und auszuführen

    Die defizitorientierten Kurzbeschreibungen entsprechen nicht tatsächlichem Umfang und Ausprägung.