Wir alle sind Teil der Geschichte

Zum 70. Geburtstag der Wirtschaftsjunioren Deutschland fragt Bundesvorsitzende Simone Rechel Vorgängerinnen und Vorgänger, was es zu ihrer Zeit bedeutet hat, voranzugehen. Hans-Werner Lindgens berichtet in seinem Interview über die Herausforderungen der Wendezeit 1990, als sich die Welt neu ordnete.

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Im Dezember 1990 schenkte Hans-Werner seiner Frau am Ende seiner Amtszeit 38 Rosen. Für jedes Wochenende, das er nicht zu Hause war, eine. Diese Zahl sagt viel über sein persönliches Engagement im Ehrenamt aus. Aber auch über die Anstrengungen des gesamten Bundesvorstandsteams, das aktiv beim Zusammenwachsen von Ost und West beitrug und ein neues Wir-Gefühl schuf.

Im Interview Mitte Juli füllte Hans-Werner die Zahl 38 mit persönlichen, unterhaltsamen bis skurrilen Anekdoten, vielen spannenden Details und historischen Fakten. Während des gesamten Gesprächs war spürbar, was für eine bewegende (Amts-)Zeit es im Jahr der deutschen Einheit gewesen sein muss, die ihn heute, 34 Jahre später, in der Rückschau immer noch rührt.

Zeitsprung: Hans-Werner, seit 1983 WJ-Mitglied, war zunächst Landesvorsitzender in Baden-Württemberg. Er hatte sich im Vorfeld nicht darum beworben. Er wurde gefragt, weil es an Alternativen und Freiwilligen fehlte. „Wenn ich gebraucht werde, bin ich da und übernehme Verantwortung“, sagt Hans-Werner über seine Entscheidung, den Landesvorsitz zu übernehmen. Der Landesverband sei damals zerstritten gewesen, weit weg von seinen Kreisen und noch nicht so eng mit den Kammern verbunden. Mit vielen Reisen zu den Mitgliedern, wertschätzenden Gesprächen und echtem Interesse gelang es ihm, die Stimmung zu verbessern, neue Strukturen aufzubauen und die nationale wie internationale Arbeit zu intensivieren. Damals konnte er noch nicht wissen, dass ihm diese Führungserfahrungen einmal helfen würden, als Bundesvorsitzender an der Wiedervereinigung mitzuarbeiten.

Überraschende Wende

Im September 1989 wurde er in Darmstadt als Bundesvorsitzender für das Jahr 1990 gewählt. „Mein Fokus war zu diesem Zeitpunkt klar auf Luxemburg und Österreich“, so Hans-Werner über seine geplante Agenda. Doch mit dem Mauerfall zwei Monate später änderte sich alles. Diesen Moment erlebte er fern der Heimat – ohne Zugang zu deutschen Nachrichten – beim JCIWeltkongress in Birmingham: „Ich war in einem Hotel und zog mich für die Gala um. Da lief im Fernsehen die Nachricht im Ticker.“ Als die deutsche Delegation zusammenkam, war nicht allen sofort die Bedeutung dieses historischen Ereignisses klar.

Die damalige JCI-Präsidentin weigerte sich, die Nachricht auf der Bühne zu verkünden. Auf Drängen des amerikanischen JCI-Präsidenten tat sie es doch. „Plötzlich ging es auf dem Weltkongress um Deutschland. Das konnte vorher niemand ahnen“, erinnert sich Hans-Werner. England sei skeptisch gewesen, Ungarn euphorisch. „Alle hatten unzählige Fragen. Wie lange wird die Wiedervereinigung dauern? Welche Rolle wird ein wiedervereintes, größeres Deutschland spielen?“

Zurück in Deutschland, in der neuen Rolle des Bundesvorsitzenden, gab er die Richtung vor: „Wir bauen die Wirtschaftsjunioren in Ostdeutschland auf“. Er hatte ein tiefes Gefühl von Fürsorge für die jungen Menschen in Ostdeutschland, die Unternehmer: innen werden wollten.

Zwischen Aufbruchsstimmung und Pragmatismus

Mit seiner Vize-Bundesvorsitzenden Annette Winkler arbeitete er sehr vertrauensvoll und eng zusammen. „Ich habe mich vorrangig um internationale Aktivitäten gekümmert, Annette um nationale.“ Die Wirtschaftsjunioren hatten damals gute Kontakte in die Politik bis hin zum damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. So kam es, dass Hans-Werner in der ersten Regierungsmaschine saß, die in den Osten flog.

Dort angekommen, spürte er die Aufbruchsstimmung: „Die jungen Leute in der DDR wollten loslegen. Es herrschte eine große Offenheit und eine gute Grundstimmung gegenüber dem Westen.“ Er sah aber auch, dass Vieles richtig kaputt war und fragte sich: „Wie wollen wir das wieder aufbauen?“ An die versprochenen blühenden Landschaften, die schon bald erstrahlen sollten, glaubte er nach seinem ersten Besuch in Dresden nicht.

Und dennoch – oder gerade vielleicht deshalb – wollte er den Wissenstransfer und Austausch fördern. „Diese Hingabe für das Zusammenwachsen war nicht bei allen Landesvorständen gleichermaßen ausgeprägt und musste sich erst über die Zeit entwickeln. Dann packten aber alle ausnahmslos mit an“, so Hans-Werner. All denjenigen, die zunächst gegen die Aufnahme von Kreisen aus dem Osten stimmten, entgegnete er: „Wart ihr schon dort? Nein? Wie wollt ihr denn über etwas urteilen, das ihr nicht kennt?“ Nach vielen Diskussionen wurde im März 1990 Sachsen als erster Landesverband im Osten aufgenommen.

Praktische Hilfe auf dem kleinen Dienstweg

In der Aprilausgabe 1990 des Mitgliedermagazins steht, das Ziel der Wirtschaftsjunioren sei nun „[…] mit wirtschaftlicher und marktwirtschaftlicher Erfahrung zu helfen, das zu vermitteln, zu aktivieren, was das planwirtschaftliche System erstickt, was es jahrzehntelang unterdrückt hat, nämlich erfolgreiches unternehmerisches Management.“ Hans-Werner sah es dabei als seine Aufgabe an, Vorurteile abzubauen, Verantwortung an andere zu übertragen und sie zum Mitwirken zu bewegen. Auf die Frage, wie er dies gemeistert habe, entgegnet er: „Mit Leidenschaft, Freundschaft, Empathie und immer mit dem Blick nach vorn.“

Die Wirtschaftsjunioren leisteten fortan praktische Hilfe auf dem kleinen Dienstweg außerhalb der großen Politik. Die Gründung von WJ-Kreisen in DDR wurde durch Patenschaften von BRD-WJ-Kreisen erleichtert. Die Wirtschaftsjunioren führten Planspiele über freie Marktwirtschaft durch und berieten Führungskräfte vor Ort in DDR-Unternehmen. Sie öffneten ihre Existenzgründungsveranstaltungen für künftige Unternehmer: innen aus der DDR, erläuterten Problembereiche, gaben Orientierungshilfe. Eine Praktikantenbörse für DDR-Fachund Führungskräfte entstand, mit der betriebswirtschaftliches Rüstzeug vermittelt und Einblick in den betrieblichen Alltag gegeben wurde. Im Juni 1990 enthielt sie über 1.000 Angebote und Nachfragen.

Darüber hinaus bauten die Wirtschaftsjunioren eine Ost-West-Datenbank zur Förderung von Geschäftskontakten auf. Bereits im Juni 1990 kamen über 2.000 Kontaktwünsche zusammen. Ein weiteres Projekt richtete sich gezielt an Schulredaktionen und Bürger:innen aus DDR. Sie wurden zur Hannover- Messe und in Juniorenkreise eingeladen. Die Wirtschaftsjunioren verfassten zudem das Dresdner Mani fest, ein Appell an die DDR-Regierung, den Wandel des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in der DDR nachdrücklich in Gang zu setzen und zu unterstützen.

Im Mitgliedermagazin von damals heißt es, DDR-Unternehmen befürchteten, dass „kleine Betriebe plattgewalzt“ werden, wenn Unternehmer aus der BRD hineindrängen. Einzelhändlern aus Rostock und Schwerin äußerten die konkrete Sorge, von Händlern aus dem Westen mit Kapital und Knowhow überrannt zu werden. Hans-Werner ergänzt selbstkritisch, dass er Negatives nicht in Erinnerung habe. Klar, könne er sich auch an überhebliche Mitglieder erinnern, aber vorherrschend war ein zunehmendes Wir-Gefühl.

Abseits des Ost-West-Themas hatte der Bundesverband eine weitere Herausforderung zu meistern. Er war aufgrund schlechter Verträge mit der Druckerei des Mitgliedermagazins vor Hans-Werners Zeit in finanzielle Schieflage geraten. Zwei Jahre habe es gedauert, aus dem Minus herauszukommen. In der Zwischenzeit habe der Bundesvorsitz seine Ausgaben alle aus eigener Tasche gezahlt.

Plädoyer für ehrenamtliches Engagement

Auf die Frage, wie er die Wirtschaftsjunioren heute sieht, zögert Hans-Werner: „Ich bin zu weit weg, um mir ein Urteil zu erlauben. Was ich aber weiß: Die Wirtschaftsjunioren sind ein sensationeller Verband, der sehr viel bewirken kann. Heute stehen wir wieder vor großen Herausforderungen und Transformationen. Daher wäre mein Rat an die aktiven Mitglieder, wenn ich einen geben darf: Seid nah an den Problemen dran, nehmt nicht alles als gegeben hin, seid kernig und unbequem. Ihr seid auch alle Teil der Geschichte.“ Hans-Werner beendet das Gespräch mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für ehrenamtliches Engagement bei den Wirtschaftsjunioren. „Die Arbeit gibt einem so viel mehr zurück, als man gibt. Mit etwas zeitlichem Abstand kann ich sagen: Meine eigene BuVo-Zeit ist ein Geschenk, das ich lebenslang im Herzen bewahre“.

Vielen Dank für das Gespräch.

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