Holt die Leute rein!

René Schaar ist der Erfinder von Elin, der ersten Puppe mit sichtbarer Behinderung in der 50-jährigen Geschichte der deutschen Sesamstraße. Der stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte des NDR plädiert für einfache Lösungen für gerechte Teilhabe.

von Stella Kennedy

© René Schaar

Elin, sieben Jahre alt, hat dunkle Haare, zwei Zöpfe und eine hohe Stimme, die sich manchmal überschlägt, wenn sie wieder begeistert über ihre Bastelprojekte spricht. Jetzt gerade will sie mit ihren Freunden eine Seifenkiste bauen und ärgert sich: „Mist wir haben den Sitz ja verkehrt herum eingebaut!“. Mit ihrer gelben Strickjacke und Turnschuhen sitzt sie im Rollstuhl und zeigt Elmo, Grobi, Tiffy und Co, wo der wortwörtliche Hammer hängt. Elin ist eine Puppe, ein Charakter der Sesamstraße und entstanden im Kopf von René Schaar. Dass sie wegen ihrer Gehbehinderung einen Rollstuhl nutzt, ist dabei ein Merkmal von vielen, die sie auszeichnen.

Schaar leitet seit 2022 stellvertretend den Bereich „Gleichstellung und Diversity“ beim Norddeutschen Rundfunk (NDR). Zuvor arbeitete er dort als Cutter und schnitt Sendungen und Beiträge, gewann 2020 als Teammitglied des Reportageformates STRG_F den Grimme Online Award. Nur zehn Tage, nachdem er seine Stelle als Gleichstellungsbeauftragter angetreten hatte, schrieb er dann der Sesamstraßen-Redaktion eine E-Mail mit dem Betreff: „Vielfalt der Muppets“. Das Ergebnis dieser Initiative: Elin.

Die Geschichten um Elin seien dann im Team entstanden: „Wir haben die Community von Anfang an mit reingeholt in die Entwicklung“, erzählt der Wahl-Hamburger. Er selbst hat Dysmelie, eine angeborene Armfehlbildung. „Ich war nicht der einzige behinderte Mensch im Entwicklungsteam, weil ich eben ‚nur‘ einen Arm weniger habe. Ich bin selbst nicht gehbehindert. Ich habe zwar eine gehbehinderte Mutter, aber deswegen maße ich mir nicht an, für gehbehinderte Menschen selbst zu sprechen.“ Dabei geht es konkret um Fachwissen, was laut Schaar direkt von Menschen kommen sollte, die es betrifft. Viel zu oft werde gerade über den Köpfen von Menschen mit Behinderungen hinweg entschieden, sagt er.

Fehlende Barrierefreiheit ist im Grunde genommen nur schlechtes Design

„Holt die Leute rein“, appelliert Schaar gerade an Unternehmerinnen und Unternehmer.  „Und habt keine Angst. Es wäre schade, wenn wir weiter tabuisieren und dieses Thema und die Menschen zur Seite schieben“. Er selbst sei oft die erste Person mit sichtbarer Behinderung, gerade im beruflichen Kontext. „Das merke ich schon, dass ich in den verschiedenen Räumen, die ich betrete, oft der Erste bin und mir darum häufig eine Unsicherheit entgegenschlägt“, erzählt er. Dabei sei Inklusion gar nicht so kompliziert, wie oft dargestellt: „Fehlende Barrierefreiheit ist im Grunde genommen einfach nur schlechtes Design“, findet er. „Da wurden schlichtweg Leute, beim Innenarchitekten, beim Städteplaner, beim Bauingenieur – da wurden einfach am Schreibtisch bestimmte Nutzergruppen nicht mitgedacht oder vergessen“.  

Einfache Lösungen lägen dabei auf der Hand: „Ein Beispiel: Du hast eine gehbehinderte Person, dann machst du halt einen automatischen Türöffner dran, oder eine Rampe, dann ist das Thema erledigt und die Person kommt rein oder raus. Wenn du eine blinde Person hast und du hast einmal deine Software Screenreader tauglich gestellt, dann beschäftigt dich das nicht mehr, dann gibt’s einfach einen Alltag“. Ins Machen kommen, Menschen einbinden, ins Gespräch kommen und über Lösungen nachzudenken, das wünscht sich Schaar.

Zurück zu Elin. Viel mehr als eine wichtige Ergänzung im Sesamstraßen-Team, ist sie besonders für Kinder mit Behinderungen eine Repräsentationsfigur, nach dem Motto: „Wenn die das kann, kann ich das auch.“ Zur Lebensrealität von Kindern und Menschen mit Behinderungen gehört laut Schaar aber unweigerlich die Erkenntnis, „dass sie nicht alles werden können und dass sie nicht überall mitspielen können und dass sie nicht überall hinkönnen, egal wie sehr sie sich anstrengen“. Weil die Gesellschaft noch nicht so inklusiv und barrierefrei ist, wie sie sein sollte.

Über Sichtbarkeit und Vorbilder wie Elin spüren sie aber, dass sie nicht vergessen werden. Dass sie ebenso wertvoll sind, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Gerade deshalb sind sie so sehr darauf angewiesen sind, dass genau diese Gesellschaft ihnen entgegenkommt. Von gerechter Teilhabe profitieren am Ende alle, davon ist René Schaar überzeugt.  Für die technikbegeisterte Elin ist das mit dem verkehrt herum eingebauten Sitz der Seifenkiste übrigens kein Problem: „Egal, dann bauen wir ihn jetzt richtig ’rum rein“, sagt sie und strahlt.

© Ulrike Jensen

René war Teil der WJ-Aktionswoche zum Internationalen
Tag der Menschen mit Behinderungen vom 27. November
bis 3. Dezember. Mehr Infos dazu unter
https://wjd.de/projekte/unternehmen-vielfalt/tdmb und auf dem
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