Barrierefreiheit als Standard

Stephanie Aeffner ist Bundestagsabgeordnete für Pforzheim und den Enzkreis in der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Sie ist Expertin unter anderem für Barrierefreiheit, das Bürgergeld und die Kindergrundsicherung. WJD-Bundesgeschäftsführerin Laura Jorde hat sie zum Gespräch getroffen.

Interview von Laura Jorde

© Sabine Arndt

Liebe Frau Aeffner, was verstehen Sie unter Teilhabe?

Zugänge zu allen Räumen innerhalb einer Gesellschaft, wenn ich das möchte. Nicht jeder will ja überall teilhaben. Ich will vielleicht gar nicht an Kultur teilhaben, weil ich das blöd finde und mich mehr für Sport interessiere. Es ist eine Strukturfrage: Wie gestalten wir all unsere Räume in unserer Gesellschaft, so dass alle daran teilhaben können, ihren Raum finden, gesehen werden, ihre Interessen ausleben können, selbstbestimmt leben können?

Also die Chance zu haben, überhaupt zugreifen zu können.

Ja, und sich einbringen zu können. Es darf aber nicht so sein, dass die Einstellung ist: Oh je, da kommt jemand, der möchte an irgendwas teilhaben – jetzt muss ich mir eine Sonderlösung überlegen. Eine wirklich vielfältige Gesellschaft sind wir, wenn alle Strukturen so sind, dass ich nicht nach den Zugängen fragen muss, sondern es von vornerein immer mitgedacht wird.

Ist das auch eine Kulturfrage? Das eine sind ja Prozesse und Strukturen, die wir schaffen können, und das andere ist der Umgang mit- und untereinander…

…in gegenseitiger Wertschätzung und das quer über alle gesellschaftlichen Gruppen. Ich glaube, selbst das ist in unserer Gesellschaft an vielen Stellen nicht vorhanden und das betrifft alle Diskriminierungsmerkmale. Was all diese vielfältigen Menschen der Gesellschaft geben können, wird nicht überall gesehen. Das ist die Grundvoraussetzung. Es bräuchte ein Umdenken. Nicht mehr: Das ist jetzt auch noch ein Zusatzaufwand für mich! Sondern: Das ist ein Gewinn für mich! Diese Kultur haben wir leider noch nicht.

Um das mal für Menschen mit Behinderungen deutlich zu machen: Wir haben eine ganze Generation umgebracht im Dritten Reich. Haben aussortiert. Da kommt übrigens auch die Ausdifferenzierung der Sonderpädagogik her: Dass man sortiert hat, wer ist denn noch für den Arbeitsmarkt verwertbar und wer nicht mehr? Dieses Kapitel ist nicht richtig aufgearbeitet worden, und daraus resultieren viele Tabus und Unsicherheiten – bis heute. Es sind nach 1945 ganz viele Sonderwelten für behinderte Menschen entstanden, wie Wohneinrichtungen oder Sonderschulen. Ganz weit draußen vor den Toren der Städte, wo die Mehrheitsgesellschaft keine Berührungspunkte hat. Und wenn ich keine Berührungspunkte habe, dann habe ich Unsicherheit.

Diese Unsicherheiten überwinden wir letztendlich nur, wenn wir zusammen aufwachsen und uns kennenlernen. Wenn jemand Personalverantwortung trägt und noch nie einen Menschen mit Behinderung im Alltag erlebt hat, vielleicht nur irgendwelche Filme kennt, wo jemand „an den Rollstuhl gefesselt“ ist, dann ist im Regelfall überhaupt keine Vorstellung davon vorhanden, was diese Menschen im Arbeitsleben leisten können.

© Claudia Dossenbach

Was kann der oder die Einzelne tun, aber was kann auch die Politik tun, um daran etwas zu ändern?

Es gibt unterschiedliche Barrieren. Es gibt Barrieren, die Zugänge faktisch unmöglich machen. Das betrifft nicht nur Menschen mit Behinderungen. Wenn ich zum Beispiel Sprachschwierigkeiten habe, weil ich gerade hier eingewandert bin und niemand bereit ist, mir zu helfen. Oder dass ich nicht zu bestimmten Orten gehe, weil ich es mir finanziell nicht leisten kann. Daneben gibt es einstellungsbedingte Barrieren. Ich gehe also irgendwo nicht hin, weil ich mich nicht willkommen fühle. Menschen mit Behinderungen haben beides in extremem Maße. Und das ist wahnsinnig mühsam. Allein herauszufinden, ob ein Veranstaltungsraum rollstuhlgerecht ist oder ob es bei einer Theateraufführung eine Induktionsschleife für Hörbehinderte gibt. Es kostet unfassbar viel Zeit, diesen Informationen hinterherzulaufen, und oft verlässt einen bereits an diesem Punkt die Lust. Viele Menschen mit Behinderungen haben außerdem wenig Geld und können sich einige Dinge nicht leisten. Wenn wir Zugänge schaffen wollen, dann müssen wir eine barrierefreie Welt schaffen.

Bei Barrierefreiheit denken ja viele Menschen erstmal an Rampen als Zugänge zu Gebäuden. Barrierefreie Dokumente kennen die meisten mittlerweile auch noch. Aber Barrierefreiheit ist viel mehr. Können Sie für uns erläutern, was Barrierefreiheit alles umfasst?

Hinkommen, reinkommen, klarkommen. Das fängt an mit: Ich finde Informationen über Zugänglichkeit, wenn ich irgendwo hingehen will, irgendwas nutzen will. Der Weg dorthin funktioniert. Barrierefreiheit bedeutet, dass ich ein Angebot, ein Produkt, eine Dienstleistung genauso wie alle anderen Menschen nutzen kann – ohne zusätzliche Hilfen, ohne technische Erschwernis und das jederzeit und überall. Nicht nur für eine Stunde im Monat.

Das bedeutet ja, zum Beispiel Städte komplett neu zu planen und zu denken. Das ist wahrscheinlich ein langer Weg. Wie schätzen Sie das ein? Wie realistisch ist es, dass wir in greifbarer Zukunft zu einer barrierefreien Gesellschaft werden?

Wenn wir in die USA schauen, wo es seit 1990 den „Americans with Disabilities Act“ gibt, dann sehen wir, dass es geht. Dort kann man sich heute fast überall sehr barrierefrei bewegen. Österreich hat 2006 ein Gesetz mit zehnjähriger Übergangsfrist verabschiedet – dort ist jetzt nicht alles perfekt, aber das Gesetz hat eine wahnsinnige Dynamik ausgelöst.

Ich glaube, weder aus Sicht der Menschen mit Behinderungen noch aus Sicht der Wirtschaft haben wir die Zeit zu sagen: Wir werben jetzt erstmal mal dafür. Wir machen es freiwillig. Nein, jetzt braucht es strukturelle Vorgaben. Damit nicht derjenige, der Barrierefreiheit umsetzt, einen wirtschaftlichen Nachteil davon hat. Und das werden wir jetzt tun. Wir haben uns als Regierung eine Gesetzgebung für mehr Barrierefreiheit vorgenommen, werden Übergangsfristen definieren. Eine Website kann ich relativ schnell barrierefrei gestalten, bei einem Bahnhof brauche ich länger für einen Umbau.

Was wünschen Sie sich in Punkto Barrierefreiheit von den Unternehmen, von den Mittelständlern?

Ein Umdenken: Barrierefreie Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und anzubieten, kann ein großer wirtschaftlicher Vorteil sein! Ich weise nur mal auf das iPhone hin. Warum wurde Spracherkennung entwickelt? Wo kommt das her? Für blinde Menschen – weil es den Americans with Disabilities Act gibt! Heute ist das für die Allgemeinheit nicht mehr wegzudenken, dass wir über Sprachsteuerung unsere Mobilgeräte und alle möglichen Geräte im Haushalt steuern können.

Die Politik muss dafür sorgen, dass Investitionen in Barrierefreiheit kein wirtschaftlicher Nachteil sind: Im Moment ist es zum Beispiel so, dass bestehende Arztpraxen eigentlich dazu verpflichtet sind, ihre Dienste barrierefrei anzubieten. Es gibt ja die Versichertengemeinschaft, für die sie einen Versorgungsauftrag haben. Für Bestandspraxen gibt es aber keine Fristen, bis wann sie barrierefrei sein müssen! Die eine Praxis nimmt das Geld in die Hand, investiert, schmälert damit ihren Gewinn. Und die andere Praxis sagt: Mir doch egal. Sie schließt damit zugleich die vermeintlich weniger rentable Kundschaft aus – weil das Vorurteil besteht, dass Menschen mit Behinderungen ständig krank sind und Medikamente brauchen. Hier muss Politik tätig werden. Die Lösung ist eigentlich ganz einfach: Wenn wir Barrierefreiheit zum Standard machen, dann hat niemand einen Extraaufwand.

Sie sind die einzige Abgeordnete im Bundestag mit einer sichtbaren Behinderung. Dementsprechend werden Sie häufig für Interviews oder Veranstaltungen angefragt, um als Betroffene Ihre Perspektive zu schildern. Einerseits sicherlich eine willkommene Gelegenheit, Aufmerksamkeit für die Belange behinderter Menschen zu generieren. Andererseits rücken dabei eigene politische Inhalte vielleicht in den Hintergrund. Wie gehen Sie damit um?

Es sollte nicht um dieses Betroffenheitsding gehen. Als Veranstalter oder Journalistin sollte ich nicht nach dem Motto agieren: Hauptsache, ich habe jemanden gefunden mit diesem oder jenem Merkmal, und dann geht es nur um die persönliche Geschichte und Betroffenheit. Die Idee sollte doch sein: Wir wollen Vielfalt abbilden, weil das unsere Gesellschaft besser repräsentiert – und dann wählt man eine Person aus, die vielleicht ein Vielfaltsmerkmal aufweist, die aber vor allem etwas zum Thema sagen kann, und befragt sie dann auch zu diesem Thema. Das ist ein wertschätzender Umgang, der den Mehrwert von Vielfalt in den Raum stellt.

Solange wir in einer Gesellschaft leben, in der Diskriminierung stattfindet, müssen wir Vielfalt fördern, indem Menschen mit bestimmten Merkmalen aktiv unterstützt werden – zum Beispiel im öffentlichen Debattenraum, im Parlament oder in Unternehmen. In einer idealen Welt würde aber kein Mensch darüber reden, dass ich die Bundestagsabgeordnete im Rollstuhl bin. Auch weil es deutlich mehr Abgeordnete mit sichtbaren Behinderungen gäbe. In dieser Welt sind wir aber – noch – nicht. Die Quoten- Person mag man aber auch nicht sein.

Sie sind auch Mitglied im parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Das passt super, weil wir uns in der Jungen Wirtschaft in diesem Jahr mit den SDGs beschäftigen. Mir ist aber aufgefallen, dass es in diesem Beirat viel um nachhaltiges Bauen und die Verkehrswende geht und wenig um soziale Themen. Haben sie das Gefühl, dass die soziale Säule der Nachhaltigkeit ein bisschen untergeht zwischen den anderen beiden, Ökologie und Ökonomie?

Tatsächlich bin ich genau deshalb in diesem Beirat. Und wir haben auch gerade ein Positionspapier zu „Wohlbefinden“ beschlossen. Wir hätten wahrscheinlich 800 Seiten schreiben können, weil es einfach alles umfasst: Aufwachsen, Arbeit, gute Löhne, Bildung und vieles mehr. Nach meinem Empfinden ist das gesellschaftliche Bewusstsein für Nachhaltigkeit im Sinne von Ökologie und Klimaschutz sehr hoch, aber die sozialen Ziele sind weniger bekannt. Und mich erschreckt die Entwicklung in unserer Gesellschaft, dass es vermehrt ein Nach-unten-Treten gibt. Gerade in der Debatte um das Bürgergeld ist mir das aufgefallen: Selbst Bürgergeld beziehende Menschen nehmen untereinander Wertungen vor. Wir Grüne haben uns dafür eingesetzt, dass es keine Sanktionen gibt. Für mich ist ein Existenzminimum ein Existenzminimum. Das kann ich nicht kürzen. Aber dann sehe ich Menschen in Fernseh-Debatten, die selbst Bürgergeld beziehen und sagen: ‚Ich kann ja nicht arbeiten, ich habe gesundheitliche Probleme. Deshalb sind Sanktionen gegen mich ungerecht. Aber die anderen, die eigentlich arbeiten könnten, die muss man schon sanktionieren, wenn sie sich nicht an die Regeln halten.‘ Sich selbst ein Stück weit erhöhen, indem man Vorurteile gegen Menschen nährt, die unter genau demselben System leiden, dieses Phänomen beschäftigt und beunruhigt mich zunehmend, insbesondere seit der Pandemie.

Eine letzte Frage: Wenn es eine Sache gäbe, die sie ab morgen ändern könnten an unserem Land, was wäre das?

Ich würde mir eine grundpositive Haltung des Staates allen Menschen gegenüber wünschen. Dass Vertrauen herrscht und jemand, der finanzielle Hilfe in Form von Sozialleistungen benötigt, diese Hilfe selbstverständlich und unkompliziert erhält. Dass Behörden erst dann kontrollierend und strafend agieren, wenn jemand dieses Vertrauen missbraucht hat.

Vielen Dank für das Gespräch!