Wir wollen die Wirtschaft am Laufen halten
Nicole Beste-Fopma engagiert sich seit fast zwanzig Jahren für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben. Nach Rückschlägen in den Anfangsjahren – unternehmerisch und gesundheitlich – wagte sie im Oktober 2024 einen Neustart und gründete den Bundesverband Vereinbarkeit. Warum sie den Vereinbarkeitsbegriff heute weiterfasst, was sich jetzt politisch und gesellschaftlich ändern muss und warum gerade die Wirtschaft davon profitiert, erklärt sie im Interview.
Nicole Beste-Fopma startete 2010 eine Website für berufstätige Eltern mit dazugehörigem Magazin, um eine Bewegung für bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu starten. Doch das Konzept ging nicht auf und das Projekt scheiterte – auch, weil sie schwer erkrankte. Nach ihrer Genesung und einer Auszeit in Asien hatte sie eigentlich mit dem Vereinbarkeitsthema abgeschlossen. Eigentlich. Denn dann kam 2020 Corona. Die Pandemie machte plötzlich für alle sehr deutlich sichtbar, worüber sie seit Jahren sprach: Fehlende Gleichberechtigung in der Care-Arbeit, veraltete Rollenbilder, fragile Betreuungs- und Pflegestrukturen. Als 2022 die EU-Vorgaben zur Familienstartzeit von Deutschland nicht in nationales Recht überführt wurden, fasste sie neue Kraft für ihr Engagement und einen Entschluss: die Gründung des Bundesverbands Vereinbarkeit.
Junge Wirtschaft: Liebe Nicole, Vereinbarkeit ist kein neues Thema. Warum jetzt die Gründung eines Bundesverbands?
Nicole: Wir sehen, dass es bereits einzelne Interessenvertretungen gibt und viele Menschen die Bedeutung des Themas erkannt haben. Dennoch bleibt Vereinbarkeit in politischen Entscheidungsprozessen zu oft Nebensache. Um das zu ändern, müssen wir das Engagement bündeln und verschiedene Akteurinnen und Akteure zusammenbringen. Es nützt nämlich gar nichts, als Angestellte Forderungen aufzustellen und Petitionen zu initiieren, die bei Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen auf Ablehnung stoßen. Daher wollen wir als Bundesverband den Austausch zwischen ihnen fördern, damit sie gemeinsam Lösungen erarbeiten und an die Politik herantragen. Dafür baue ich mit meinem Team bundesweite Strukturen auf.
Wie sind die Reaktionen?
Wir freuen uns über das große Interesse und den Zulauf deutschlandweit. Wir gewinnen neue Mitglieder aus der Wirtschaft und Privatpersonen, es gründen sich die ersten Hubs in Frankfurt, Berlin, München und an vielen weiteren Orten. Sie planen regionale Vereinbarkeits-Barcamps. Im Juni findet unter dem Dach des Bundesverbands der erste bundesweite Vereinbarkeits- Summit der deutschen Wirtschaft in Hamburg statt, der sich gezielt an Personalverantwortliche und Geschäftsführende richtet.
Das sind nur Städte in Westdeutschland …
Ja, ich wünsche mir tatsächlich noch mehr Engagement im Osten. Zwar ist dort das Mindset und die Strukturen bei der Kinderbetreuung fortschrittlicher, aber wir beobachten zunehmend, dass es sich auch dort immer mehr Richtung Westen entwickelt. Das ist erschreckend.
Auf Eurer Website schreibt ihr vermehrt von Lebensphasenorientierung statt von Vereinbarkeit. Warum?
Bei Vereinbarkeit konzentrieren sich die Bemühungen zu sehr auf die Kinderbetreuung und Mütter allein. Wir müssen Väter bei dem Thema noch viel stärker einbeziehen, ebenso Aspekte wie Pflege, Ehrenamt, Gesundheit oder ein aufwändiges Hobby. Sie müssen mit Erwerbsarbeit und auch mit unternehmerischem Handeln vereinbar sein. Keine Gegensätze.
Wo steht Deutschland derzeit im europäischen Vergleich?
Ich vergleiche ungern pauschal international – das ist selten fair, da wir in sehr unterschiedlichen Systemen leben. Aber klar ist: Wir hängen in Deutschland noch in dem alten Denkmuster fest, dass das Kind allein zur Mutter gehört. Wir räumen Vätern nach wie vor keine gleichberechtigte Rolle bei der Care-Arbeit ein. Das bremst uns als Gesellschaft und auch wirtschaftlich aus. In anderen Ländern wie den Niederlanden ist das Rollenverständnis viel progressiver und die Betreuung, gerade auch in der Pflege, viel besser aufgestellt. Ebenso in Schweden, wo in den 1970er Jahren politische Maßnahmen ergriffen wurden, um mehr Frauen in die Jobs zu bekommen. Damit sind sie uns 50 Jahre voraus.
Welche Folgen hat das?
Es bleiben zu viele qualifizierte, motivierte und gut eingearbeitete Fachkräfte, überwiegend Frauen, zu Hause. Laut einer Berechnung des BMFSFJ unter Lisa Paus allein 840.000 Vollzeitäquivalente unter den Müttern mit Kindern bis zu fünf Jahren. Hinzu kommen Mütter mit Kindern zwischen fünf und 18 Jahren. Ich habe das einmal für pflegende Angehörige ausgerechnet, die im Schnitt neun Wochenarbeitsstunden weniger arbeiten, sobald ein Familienmitglied pflegebedürftig wird: Wenn alle, die Beruf und Pflege vereinbaren, pro Woche eine Stunde mehr erwerbstätig wären, dann sind das noch einmal rund 361.000 Vollzeitäquivalente, die hinzukommen. Mit Blick auf den Fachkräftemangel und demografischen Wandel ein Wahnsinn. Pures Gold, das den Unternehmen derzeit verlorengeht. Tendenz steigend.
Wo liegt aktuell der größte Hebel für Verbesserungen?
Ganz klar: Der größte Hebel liegt in verlässlicher Kinderbetreuung und professionellen Pflegeangeboten. Wir müssen aufhören, Ganztagsbetreuung als etwas Schlimmes zu labeln. Wir brauchen zudem eine schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse und steuerliche Anreize für Betriebskitas. Die Gebäude sind oft nicht das Problem – es fehlt an Fachkräften und unbürokratischen Lösungen.
Und wie profitieren Unternehmen, die Vereinbarkeit strategisch fördern?
Sie haben stabilere Teams, weniger Fluktuation und sind ein Magnet für Gen Z. Außerdem sind ihre Angestellten produktiver und arbeiten qualitativ besser, wenn sie sich parallel keine Sorgen um die Betreuung ihrer Angehörigen machen müssen.
Was erhoffst du dir von der Politik?
Sie muss verstehen, dass Investitionen in Ganztagsbetreuung und Pflege günstiger sind als spätere Transferleistungen. Wenn wir Frauen zunächst durch fehlende Strukturen vom Arbeitsmarkt fernhalten und ihnen dann später im Alter Grundsicherung zahlen, ist das doppelt absurd. Wir haben doch alle dasselbe Ziel: Wir wollen die Wirtschaft am Laufen halten und unseren Wohlstand sichern. Das können wir nur, wenn auch in Zukunft Kinder geboren werden, Arbeitskräfte gesund sind und der Wirtschaft zur Verfügung stehen. Derzeit sieht es leider so aus, dass die Geburtsraten sinken, die Krankenstände steigen und die Teilzeitzahlen hoch bleiben.
Was können Wirtschaftsjunior:innen tun?
Schon heute Verantwortung übernehmen und nicht auf die Politik warten. Tauscht Erfahrungen und Best Practices aus, baut Vereinbarkeit in die Geschäftsstrategie ein und geht mit gutem Beispiel voran. Es lohnt sich – für die eigene unternehmerische Zukunft und kommende Generationen.
Vielen Dank für das Gespräch.

Nicole Beste-Fopma
ist Vorsitzende und Gründerin des Bundesverband Vereinbarkeit, Autorin sowie Gründerin des Vereinbarkeitsindexes.
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