Was bedeutet Leistung für Dich, Floria?
Jede*r kann durch die eigene Leistung sozial aufsteigen? Über diese Ablenkungsstrategie kann ich nur noch müde lächeln. Denn im Umkehrschluss heißt das: Wer diesen sozialen Aufstieg nicht schafft, hat eben nicht hart genug gearbeitet.
Das vermeintliche Versagen auf das Individuum zurückzuwerfen: ein sehr bequemes Narrativ, das die strukturellen und historisch gewachsenen Hürden ignoriert. Durch Klassismus, Rassismus, Sexismus, Ableismus und weitere miteinander verschränkte Diskriminierungsformen müssen wir erst einmal dicke Steine aus dem Weg räumen.
In vielen Gesellschaften herrscht die Idee vor, gesellschaftliche Aufstiege seien jederzeit möglich, solange Menschen nur genug dafür leisteten und sich bildeten. Die herrschende Klasse hätte die gesellschaftliche Stellung vor allem durch ihre Leistung und Bildung verdient. Diese Herrschaftsform hat der britischen Soziologe Sunlop Young in den 1950er Jahren mit dem Begriff Meritokratie bezeichnet.
Die Realität ist eine andere: eine Person die zum Beispiel of Color, trans, nicht-binär, lesbisch ist und mit einer chronischen Krankheit lebt, Fluchterfahrung und keinen privilegierten Pass hat, kann sich noch so sehr anstrengen: Selbst wenn diese Beispielperson das institutionelle Bildungssystem mit besten Abschlüssen durchlaufen hat – auch dann ist es immer noch so gut wie ausgeschlossen, zur gesellschaftlichen Elite aufzusteigen. Das zeigt zum Beispiel die Elitenstudie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung aus dem Jahr 2020. So sind zum Beispiel Frauen mit Migrationshintergrund in bundesdeutschen Spitzenpositionen in Justiz, Zivilgesellschaft Politik und Verwaltung besonders selten vertreten. Sie besetzen lediglich 1,5 Prozent der Eliteposten. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt laut Mikrozensus 2016 bei rund elf Prozent.
Die Ungerechtigkeit beginnt schon im Schulsystem. Der Zugang zu Bildung ist in Deutschland nicht unabhängig von der Herkunft, wie jüngst der Chancenmonitor des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik einmal mehr gezeigt hat. Auch was landläufig als Bildung angesehen wird, ist problematisch: Wieso zählen für viele Arbeitgeber*innen immer noch Universitätsabschlüsse oder institutionalisierte Zertifikate, die mitunter teuer erworben werden müssen, mehr als tatsächlich vorhandene Skills? Skills, die sich eine Person selbst beigebracht hat und seit Jahren brillant anwendet?
Die Systeme funktionieren also wie sie sollen: inkludierend für weiße hetero cis-Männer ohne Behinderung, christlich sozialisiert, mit privilegiertem EU-Pass aus einkommensstarken und akademisierten Familien. Und exkludierend für alle anderen. Hart arbeiten und sozial aufsteigen? Mit dieser Ablenkungsstrategie des Aufstiegsversprechens der Sozialen Marktwirtschaft will ich mich nicht mehr zufriedengeben. Wir benötigen ein grundlegendes feministisches Neu-Denken von Wirtschafts- und Bildungssystemen, um tatsächlich allen auf diesem Planeten und innerhalb der planetaren Grenzen faire Chancen zu ermöglichen.
Floria Moghimi ist Politikwissenschaftlerin, Strategieberaterin für Diversity, Equity & Inclusion und Geschäftsführerin ihrer Boutique-Beratung in Berlin. Gemeinsam mit ihren Kund*innen arbeitet sie an einer chancengerechteren Arbeitswelt. www.floriamoghimi.de