Der Wirtschaftsnobelpreis als Weckruf für Deutschland
Die Auszeichnung für Claudia Goldin für ihre Forschung über die Ungleichheit der Geschlechter ist verdient. Besonders Deutschland kann viel aus diesen Studien lernen.
von Marcel Fratzscher
Die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises 2023 an Claudia Goldin ist mit Blick auf die gesellschaftspolitische Relevanz wohl eine der wichtigsten wissenschaftlichen Würdigungen der letzten Jahrzehnte. Goldin hat in ihrer wissenschaftlichen Karriere die enormen Unterschiede zwischen Frauen und Männern bei Bildung, Jobs, Chancen und Bezahlung offengelegt. Sie hat stets gegen Windmühlen gekämpft, da nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in großen Teilen von Wirtschaft und Wissenschaft die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen lange Zeit als Gedöns abgetan wurde. Diese wohlverdiente Würdigung sollte vor allem für uns in Deutschland ein Weckruf sein, denn in kaum einem vergleichbaren Land ist die Diskriminierung von Frauen noch heute so groß.
Claudia Goldin hat sowohl die Bedeutung von gesellschaftlichen Werten als auch von Diskriminierung als Ursachen für die Unterschiede zwischen Männern und Frauen offengelegt. Sie zeigt, wie von privilegierten Männern dominierte Strukturen Frauen immer wieder auf neue Art und Weise diskriminieren und instrumentalisieren. Ein Beispiel ist die Umstellung der Bezahlung in vielen Industriebranchen in den 1950er-Jahren von einer stückorientierten Bezahlung auf eine Entlohnung auf der Basis von Arbeitszeit, was vor allem Menschen in Teilzeit – primär Frauen – finanziell deutlich benachteiligte. Die geringere Wochenarbeitszeit wird gerade auch in Deutschland immer wieder fälschlicherweise als legitime Erklärung herangezogen, um den Gender-Pay-Gap — der in kaum einem vergleichbaren Industrieland so groß ist — zu rechtfertigen.
Mit der geringeren Arbeitszeit gehen auch große Unterschiede in der Vorsorge einher, zudem haben Frauen ein deutlich höheres Armutsrisiko. Die Unterschiede bei Chancen, Wertschätzung und Bezahlung auf dem Arbeitsmarkt erklären einen erheblichen Teil der schlechteren Gesundheit und höheren Belastung von Frauen. Denn auch in der Familie leisten Frauen häufig den deutlich größeren Teil für die Betreuung von Kindern, der Pflege von Angehörigen und der organisatorischen Arbeit. Und wie die Corona-Pandemie gezeigt hat, sind es vor allem Frauen und Mütter, die die größere Anpassungslast in Krisenzeiten tragen. Und sie sind – wie sich in Krisenzeiten zeigt – sehr viel häufiger in systemrelevanten Berufen tätig, erhalten dafür allerdings eine geringere Wertschätzung und eine schlechtere Entlohnung.
Es ist Diskriminierung
Claudia Goldin räumt in ihrer Forschung mit einem weiteren Vorurteil auf, das sich in Deutschland hartnäckig hält: dass all diese Unterschiede auf freien Entscheidungen von Frauen beruhen. Also: Frauen entscheiden sich aus freien Stücken, in Teilzeit zu arbeiten, in bestimmten Berufen tätig zu sein, sich stärker um die Pflege von Angehörigen und Kindern zu kümmern und viele andere Aufgaben zu übernehmen und somit auch weniger häufig Karriere zu machen. So ist es aber nicht, das Gegenteil trifft zu: Es sind primär die Entscheidungen von Bundes- und Landesregierungen und den Vorständen von Unternehmen, die diese Unterschiede erklären. Viele Frauen in Teilzeit geben an, dass sie sehr gerne länger erwerbstätig wären und ihnen eine Karriere wichtig sei, wenn man ihnen die vielen Hürden aus dem Weg nähme: zu wenige Betreuungsplätze in Kitas und Schulen, eine unzureichende Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mangelnde Wertschätzung für die eigene Arbeit, schlechte Bezahlung und geringe Karrieremöglichkeiten und steuerliche Benachteiligungen. So weisen wissenschaftliche Studien immer wieder darauf hin, wie schädlich das Ehegattensplitting, die Mitversicherung und die Minijobs für die Erwerbstätigkeit von Frauen und damit für den Abbau der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt sind. Und noch immer weigern sich die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, dies einzusehen und umzusetzen, vor allem weil Männer wohl um ihre Privilegien fürchten.
Goldin zeigte als Erste, dass die geringe (entlohnte) Erwerbstätigkeit von Frauen nicht primär auf Werten, sondern auf Diskriminierung beruhte. So folgte diese über die vergangenen beiden Jahrhunderte einer U-Kurve: In stark landwirtschaftlich geprägten Volkswirtschaften war die Erwerbstätigkeit von Frauen häufig deutlich höher als heute, erst mit der Zunahme der Industrie wurden Frauen verdrängt und Männer beanspruchten die besser bezahlten Jobs für sich. In Deutschland war es in den vergangenen Jahrzehnten häufig so, dass Löhne sich schlechter entwickelten, wenn Frauen in typische Männerberufe vordrangen.
Der Trend zur Gleichstellung ist unaufhaltsam
Deutschland ist hier ein markantes Beispiel: Es waren vor allem die Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundversorgung sicherten und das Land wieder aufbauten, bis Männer dann meinten, sie könnten alles besser, und Frauen systematisch aus dem Arbeitsmarkt verdrängten und nach Hause verbannten.
Bei den gesellschaftlichen Werten haben sich in den vergangenen Jahren enorme Veränderungen abgezeichnet. Einer großen Mehrheit auch der jungen Männer ist es heute genauso wichtig, dass ihre Partnerin die gleichen Karrierechancen hat, und sie wollen sich auch ganz genauso um Kinder und Familie kümmern können. Diese Angaben beruhen auf Umfragen und es mag sicherlich noch einen Unterschied zwischen Intention und Realität geben — aber der Trend zur Gleichstellung ist unaufhaltsam, wenn auch sehr schmerzlich langsam.
Dabei ist die Erwerbstätigkeit von Frauen heute das größte ungehobene wirtschaftliche Potenzial in Deutschland. Es gewinnt durch die Demografie und den zunehmenden Fachkräftemangel nochmals an Dringlichkeit, dass Politik und Wirtschaft die Diskriminierung von Frauen beenden, Hürden aus dem Weg räumen und wirkliche Chancengleichheit gewährleisten. Somit könnte die Auszeichnung von Claudia Goldin – erst die dritte Frau von 92 Wirtschaftsnobelpreislaureaten – aus gesellschaftspolitischer Sicht der wichtigste Wirtschaftsnobelpreis der letzten Jahrzehnte sein.
Die neueste Forschungsarbeit der mittlerweile 77-jährigen Nobelpreisträgerin heißt Why Women Won. In dieser legt sie dar, dass in den USA fast die Hälfte aller rechtlichen Fortschritte zur Gleichstellung von Frauen in den letzten beiden Jahrhunderten in einer kurzen Zeitspanne zwischen Mitte der 1960er- und den 1970er-Jahren passierte. Gerade in Deutschland brauchen wir nun ein weiteres solches Jahrzehnt des Fortschritts und der Chancengleichheit — für alle Frauen und für Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes.
Dieser Text erschien zuerst am 13. Oktober 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.