Resilienz und Akzeptanz

Emre Celik ist vielfach ausgezeichneter Experte im Bereich Antidiskriminierung, Speaker und arbeitet bei Google in der Personalabteilung . Burcu Arslan hat sich mit ihm über Resilienz, Netzwerke und über die Macht der Stimme unterhalten.
Interview von Burcu Arslan

© Philipp Müller,

Lieber Emre, magst Du Dich einmal kurz vorstellen? Mich interessiert dabei vor allem, wie Du Dich definierst – setz den Schwerpunkt also gerne so, wie Du magst.

Vielen Dank, das ist eine schöne Frage! Ich sehe mich zuerst als Mensch, der sich für Menschlichkeit einsetzt. Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Aber wir Menschen benutzen ja gerne Labels und Schubladen, um unsere Welt zu ordnen. Daher: Menschen nennen mich gerne Antidiskriminierungsexperte. Ich bin Speaker, ich bin Aktivist, Gründer eines Kinderspiel-Start-ups und eines Vereins und arbeite bei Google im HR-Bereich als EMEA Employee Relations and Investigation Partner. Ich setze mich für eine Welt ein, in der wir alle auf Augenhöhe sind. Eine Welt, die uns als das sieht, was wir sind. Eine Welt, frei von Vorurteilen, Stereotypen und Stigmatisierung. Für die Umsetzung dieser Vision habe ich verschiedene Initiativen gestartet – mit deren Hilfe ich versuche, ein Antidiskriminierungs-Ökosystem aufzubauen. Alle meine Tätigkeiten sind Teil dieser Vision, dieses Ökosystems.

Hast Du eine spezifische Stärke, die Dich prägt?

Ich bin sehr, sehr resilient. Mich kann nichts aus der Fassung bringen. Das hilft mir auch oft, Themen objektiv zu betrachten. Mir ist egal, wer vor mir sitzt, ob es turbulent zugeht, ich kann immer ruhig bleiben. Das hat mir schon oft geholfen, auch große, komplexe Probleme im Arbeitskontext zu lösen, zum Beispiel in meinem Job bei Google. Denn wenn du so wie ich aus einer sehr armen Familie kommst, dann heißen deine Probleme: Habe ich morgen Essen auf dem Tisch? Kann ich mir ein Fahrrad leisten, damit ich gemeinsam mit meinen Freunden zum Bolzplatz fahren kann? Oder, dass Deine Mutter nicht zum Elternabend gehen kann, weil sie in der Produktion am Fließband arbeitet und Schicht hat. Als Alleinerziehende mit zwei zusätzlichen Putzjobs. All das sind Probleme, mit denen ich mich schon von klein auf beschäftigen musste, die aber dazu geführt haben, dass ich meinen Resilienzmuskel aufgebaut habe.

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Bei Google zu arbeiten und als Speaker auf der Bühne zu stehen ist für viele ein Traum. War es Dein Traum, dahin zu kommen, wo Du heute bist? 

Mein Traum war immer, akzeptiert zu werden, für das, was ich bin. Die Position bei Google oder auf Bühnen zu stehen oder Auszeichnungen zu bekommen war nie mein Ziel. Ich sehe das als Meilensteine und Bestätigung auf meinem persönlichen Weg. Ich habe mich auf den längsten Weg gemacht, nämlich den Weg zu mir selbst. Zu verstehen, was es bedeutet, aus einfachen Verhältnissen zu kommen. Einen Hauptschulabschluss zu haben. Offen queer zu sein. Eine Migrationsbiographie zu haben. Mein Weg ist geleitet von einer tiefen inneren Auseinandersetzung mit mir selbst. Ich widme mich der Erforschung meiner selbst, mache Notizen und habe sogar eine Präsentation über mich mit meinen Stärken, Schwächen, Werten und Zielen erstellt. Ich hole mir regelmäßig Feedback von meinen Freunden. Es hat mich immer fasziniert und zugleich bedenklich gestimmt, dass Menschen in der Arbeitswelt die komplexesten Aufgaben meistern können, aber oft nicht in der Lage sind, einfache Fragen zu ihren persönlichen Zielen oder Leidenschaften zu beantworten. Sie kennen die Werte des Unternehmens in und auswendig, können aber kein Wort über ihre eigenen Werte benennen. Dieses auffällige Missverhältnis zwischen der kompetenten Bewältigung beruflicher Aufgaben und der Schwierigkeit, grundlegende persönliche Fragen zu klären, zeigt ein tiefgreifendes kollektives Missverständnis über die wahren Prioritäten im Leben auf. Diese Diskrepanz sollte uns zum Nachdenken und zur Reflexion über die Wichtigkeit der Selbstkenntnis und persönlichen Entwicklung anregen. Deshalb glaube ich, dass man nicht von einer bestimmten Position oder einem bestimmten Unternehmen träumen sollte, sondern davon, sich selbst und seine eigenen Stärken zu verstehen. Mein Ziel war es immer, in meinem Gebiet der Beste zu sein und Menschen zu helfen. Heute bin ich ein mehrfach ausgezeichneter Antidiskriminierungsexperte, arbeite bei Google und spreche vor tausend Menschen auf Bühnen – etwas, das ich mir in meinen kühnsten Vorstellungen nie hätte träumen lassen.

In meinen beruflichen Kontext bei nushu geht es darum, dass wir Zugänge für Frauen schaffen. Zugänge zu Ressourcen, zu Mentoren, zu Unternehmen. Wir sind die Schnittstelle sind zwischen weiblichen Talenten und Unternehmen, die verschiedenste Potenziale und Positionen zur Verfügung stellen können. Ich empfinde es beruflich als Segen, mit anderen Frauen zu arbeiten, die aus unterschiedlichen Branchen kommen, die ganz unterschiedliche Geschichten haben. Der Zugang zu diesem Dialog, zu diesem Austausch hat mich auf meinem Weg maßgeblich bereichert – weil immer mehr herauskomme aus dieser Rolle, die mit dem Migrationshintergrund zu sein. Die mit dem Kopftuch. Hast Du auch solche Räume?

Netzwerke – also Menschen mit ähnlichen Herausforderungen zu treffen – sind für mich eine Quelle der Stärke. Räume, in denen man sich verstanden und gesehen fühlt. Das sind Resonanzräume voller Widerhall von Erfahrungen und Prägungen – was wiederum ein Echo erzeugt. Dieses Echo fördert individuelles Wachstum und gemeinschaftliche Erfolge. Ich selbst bin zum Beispiel Teil von Queermentor. Da unterstütze ich queere Menschen auf ihrer Reise. Auch, weil ich weiß, dass ihre Stimme lang ungehört geblieben ist. Ich will ihre Stimmen verstärken, denn ich glaube an die Macht der Stimme. Meine Stimme ist das mächtigste Instrument, das ich habe. Ob als Speaker auf der Bühne oder indem ich mit meinen Posts auf Linkedin Tabus breche, ich kann damit etwas bewegen. Denn, wie Audre Lorde gesagt hat, „your silence will not protect you“. Und ich werde reden.

Du bist ja unter anderem Antidiskriminierungsexperte. Wie schätzt Du diese Situation in Deutschland ein, was Antidiskriminierungsarbeit in Unternehmen angeht?

Hier in Deutschland würde man das, was ich bei Google mache, vermutlich AGG-Beschwerdestelle nennen (AGG = Antidiskriminierungsgesetz, Anm. d. Red.). Interessanterweise habe ich vor ein paar Wochen mich mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes darüber unterhalten, dass das AGG in Deutschland als Empfehlung angesehen wird, dem die Unternehmen kaum nachgehen. Und wenn ich auf Bühnen spreche, höre ich als Feedback oft: ‚Ein Antidiskriminierungsexperte, wow, aber sowas brauchen wir nicht!‘ Und wenn ich dann zurückfrage: ‚Was passiert denn, wenn in Ihrem Unternehmen Konflikte eskalieren, zu Mobbing werden, zu Diskriminierung?‘, dann sind meine Gesprächspartner komplett überfragt.

Was glaubst Du, warum dieses Thema in Deutschland das Thema so zurückhaltend behandelt wird? Zum einen, weil der rechtliche Rahmen nicht vorgegeben wird. In Großbritannien zum Beispiel wird klar vorgegeben, wie du mit Beschwerden im Unternehmen umzugehen hast. Welche Prozesse, welche Leute für Unabhängigkeit sorgen im Umgang mit Beschwerden. Zum anderen gibt es eine gewisse Zurückhaltung in Deutschland, was Beschwerden angeht. Das hängt an diesem Glaubenssatz, dass der Arbeitgeber über allem steht und du dich bloß nicht beschweren sollst. Und dann passiert es in meiner Wahrnehmung in vielen Unternehmen immer noch, dass Strukturen und Führungspersonen Diskriminierung manifestieren. Es gibt in vielen Unternehmen keine klaren Policies oder Leitlinien, wie ich mit Fällen von Diskriminierung umzugehen habe. Es gibt keine Antidiskriminierungsschulungen oder -trainings. Aber andererseits wird erwartet, dass alle wissen, was zu tun ist, wenn die neue Mitarbeiterin Kopftuch trägt. Wie sie damit umgehen sollen. Das funktioniert nicht. Denn unsere Gesellschaft ist eben nicht frei von Rassismus, von Misogynie – und Unternehmen sind ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Ein Unternehmen, das sich nicht aktiv gegen Diskriminierung stellt, duldet sie stillschweigend. Es ist an der Zeit, dass wir nicht nur als Individuen, sondern auch als kollektive Organisationen Verantwortung übernehmen, um eine Kultur der Gleichheit und des Respekts zu fördern.

© Philipp Müller,

Über Emre Celiks Arbeit könnt Ihr Euch unter www.emre-celik.de informieren und über Emres Gründung Occtopus unter occtopus.de. Occtopus ist ein digitales Spiel, das Kindern und ihren Eltern dabei hilft, Vorurteile und Stereotypen zu reduzieren.

© privat

Burcu Arslan von den WJ Ostwestfalen ist Head of Business Development des Social Businesses nushu. nushu ist ein branchenunabhängiges Karrierenetzwerk für Frauen und versteht sich als Teil einer großen, inklusiven Bewegung, die sich für reale Chancengerechtigkeit und die Parität von Frauen in der Wirtschaft einsetzt. Mehr Infos findet Ihr unter www.teamnushu.de.