Wie viel

In ihrem Buch „Wie viel. Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht“ geht die Journalistin Mareice Kaiser der Frage nach, welche Bedeutung Geld für sie und für unsere Gesellschaft hat. Wir dürfen einen Auszug aus dem Kapitel „Mein Geld“ drucken.
von Mareice Kaiser

© Oguz Yilmaz

Wo genau stehe ich eigentlich, zwischen Armut und Reichtum? Irgendwo dazwischen, würde ich sagen. Dazwischen, was meine gesellschaftliche Position angeht, und dazwischen, was Einkommensverhältnisse angeht.
Hilfreich für meine korrekte Einschätzung ist für mich ein Online-Rechner, der von Zeit Online entwickelt wurde. Dieser Online-Rechner basiert auf einem Konzept des Bremer Soziologen Olaf Groh-Samberg. Er hat gemeinsam mit seinem Team Dimensionen von Wohlstand miteinander verrechnet: Einkommen, Vermögen, die Wohnsituation und die Jobsituation. Die Forschenden haben daraus sechs Gruppen gebildet: Armut, Prekariat (bezeichnet Menschen, die von Armut bedroht sind und wenig Aufstiegschancen haben), untere Mitte, Mitte, Wohlstand und Wohlhabenheit. Um sich selbst in einer „sozialen Lage“ zu verorten, beantwortet man online Fragen. Zum Haushaltseinkommen, zum Haushaltsvermögen, wie viele Menschen im Haushalt leben, wie alt sie sind, wie groß die Wohnung oder das Haus ist, ob man zur Miete wohnt oder nicht.
Mein Ergebnis steht in einem Kästchen neben dem Rechner: „Mit Ihren Angaben befinden Sie sich in der sozialen Lage untere Mitte, so wie 12,1 Prozent der Menschen in Deutschland.“ Weiter unten dann noch ein paar Beschreibungen zu dieser Lage: Menschen aus der unteren Mitte seien zu 34 Prozent politisch interessiert, besuchten zu 23 Prozent Theater und Museen und seien zu 52 Prozent zufrieden mit ihrem Leben.
Die Website habe ich mehrere Tage geöffnet auf meinem Computer, bis ich aus Versehen auf etwas klicke: „Person entfernen“. Und ich sehe, dass dieser Klick meine Lage verändert. Mit dem Klick bin ich Teil der Mitte. Mit dem Klick kickte ich mein Kind aus der Berechnung. Es ist für mich so erschreckend wie einleuchtend: Der Fakt, dass ich Mutter bin, sorgt für meine finanzielle Unsicherheit. Und gleichzeitig dafür, dass es mir wichtiger ist, nicht mehr finanziell unsicher zu sein. Oder mich zumindest mit meiner Abwehr gegenüber finanzieller Sicherheit zu beschäftigen.

Verändert hat sich mein Verhältnis zu Geld erst nachhaltig, seitdem ich Mutter bin. Es ist ein Unterschied, für sich selbst verantwortlich zu sein und gerade so über die Runden zu kommen, die letzten Tage des Monats von Nudeln mit Ketchup zu leben. Oder ein Kind zu haben, das fragt: Warum kann ich das nicht haben? Oder ein Kind zu haben, dem man keine neuen Herbstschuhe kaufen kann, weil das Geld fehlt. Und es ist Herbst.
In einer für mich schwierigen Geld-Zeit stand ich mal mit meiner Tochter an einer Supermarktkasse. Als ich bezahlen wollte, funktionierte meine EC-Karte nicht. Sie war überzogen, und so stand auf dem Kartenlesegerät: „Vorgang nicht möglich“. Wir mussten den Supermarkt ohne den Einkauf – unter anderem ein Eis für mein Kind – verlassen. Die Dinge für mich selbst, die ich hatte kaufen wollen, das Schamgefühl gegenüber der Kassiererin und den Menschen hinter mir in der Schlange – alles unerheblich angesichts des beschissenen Gefühls meinem Kind gegenüber. Seit diesem Tag wartet sie immer mit dem Auspacken vom Eis, bis der Bezahlvorgang abgeschlossen ist. Meine Definition von Wohlstand: kein Bauchweh haben zu müssen, wenn ich mit EC-Karte zahle. Keine Sorge haben zu müssen, dass dort „Vorgang nicht möglich“ steht. Einfach Karte hinhalten, PIN eingeben, Einkauf einpacken. Was für viele selbstverständlich ist, ist für andere Luxus.

© Oguz Yilmaz

Mareice Kaiser, Jahrgang 1981, arbeitet als Journalistin, Autorin und Moderatorin. Sie scrollt, schreibt und spricht zu Gerechtigkeitsthemen.

„Wie viel. Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht“ ist erschienen bei rowohlt Polaris.