Gesichter der jungen Wirtschaft: Simone Rechel
Als ihre Tochter das Zu-Bett-Geh-Ritual in ein Kartenspiel verwandelt, gründet Simone Rechel ohne Zögern das Spiele-Unternehmen „Fenyas Welt“. Ungewöhnlich? Nicht, wenn man als Coach schon lange Menschen ermutigt, ihren Stärken zu vertrauen.
Wie war dein Tag?
Man hört ja oft, dass Kinder feste Regeln brauchen. In Handbüchern über Erziehung steht dann: klare Rollen. Im Spiele-Unternehmen Fenya’s Welt in Bensheim weiß man das und hält sich daran. Jedenfalls sitzt dort die achtjährige Fenya in ausgeglichener Stimmung im Interview und stellt klar: „Also die Chefin bin ich.“ Schließlich habe sie die Spiele ja auch erfunden. Simone Rechel, die neben ihrer Tochter am Küchentisch sitzt, lächelt. „Ich bin die Vize-Chefin“, sagt sie.
Die Idee, gemeinsam Spiele zu verkaufen, entstand vor etwa anderthalb Jahren. Hervorgegangen ist das erste Spiel aus einem Ritual, das Simone für das Zu-Bett- Bringen eingeführt hatte. Dabei stellten sich Mutter und Tochter gegenseitig sieben Fragen, immer die gleichen. „Was war heute gut?“, fragten sie zum Beispiel. Aber auch: Was war schlecht? Worauf bist du stolz? Worauf freust du dich morgen?
„Fenya ist eigentlich ein stilles Kind, das von sich aus nicht so viel erzählt“, sagt Simone. Wenn ihre Tochter etwas bedrücke, bekomme sie Bauchschmerzen. „Da war es schon immer eine Herausforderung, kreativ zu erfragen, was sie beschäftigt“, erzählt Simone. Gleichzeitig sollte es kein Verhör werden, daher beantworteten abends beide die Fragen. Und Fenya gefiel das Ritual offenbar richtig gut.
„Irgendwann waren wir gerade beim Haare Föhnen und da dachte ich, dass das mit den Fragen ja eigentlich auch andere Leute spielen könnten“, erzählt Fenya. „Und mit mehr Fragen.“ Also machte sie sich am nächsten Nachmittag ans Werk und schrieb ihre Ideen für Fragen auf. Abends präsentierte sie sieben rosafarbene DIN A4-Blätter, vollgeschrieben und mit Tesafilm aneinandergeklebt. „Ehrlich gesagt hatte ich da schon fast vergessen, dass wir über diese Idee gesprochen hatten“, sagt Simone. „Aber als sie mir diese Liste gezeigt hat, dachte ich: Okay, jetzt finden wir heraus, wie man ein Spiel rausbringt.“
Finnische Erfahrungen
Fenya’s Welt ist das zweite Unternehmen, das Simone gegründet hat. Und vielleicht wird klar, woher der Entschluss kam, die Idee der Tochter ernst zu nehmen, wenn man weiß, was Simone sonst beruflich tut: als Business-Coach und Trainerin zeigt sie Menschen ihre Stärken. Genauer gesagt: sie zeigt introvertierten Menschen ihre Stärken.
Introvertiert ist auch Simone selbst. Das war schon immer so. Nur dass das auch eine Stärke sein könne, hat lange niemand gefunden. Nach der Grundschule wollte ihr der Klassenlehrer eigentlich keine Empfehlung fürs Gymnasium geben, erzählt sie. „An den Noten hat das nicht gelegen, sondern daran, dass ich zu ruhig sei“, sagt Simone. „Er habe Sorge, dass ich mich da nicht durchsetzen könne.“
Das Gefühl, zu ruhig zu sein, blieb, auch wenn sie dann doch aufs Gymnasium wechselte. Später während ihres dualen BWL-Studiums in Lörrach wurde der Gedanke, sich ändern zu müssen, zum Antrieb: Simone wurde zur ersten, die in ein Auslandssemester gehen wollte. Nach Kuopio in Finnland. „Ich hatte das Gefühl, ich müsste so werden wie Extrovertierte, auch um in der Berufswelt zu bestehen“, sagt Simone. „Also dachte ich: So mach ich das jetzt.“ Wie nach einer finnischen Sauna warf sie sich ins kalte Wasser: eine neue Umgebung, viele fremde Menschen. Es wurde sogar richtig schön. Freundschaften aus ihrer Zeit in Kuopio habe Simone heute noch. „Das war für uns alle eine total intensive Erfahrung“, sagt sie. „Nur daran, dass ich introvertiert bin, hat es natürlich nichts geändert.“
Heute weiß sie: Daran muss sich auch gar nichts ändern. Wie viele Stärken Introvertierte haben, merkt Simone nicht zuletzt bei ihren Kunden im Coaching und Training. Introvertierte Menschen könnten zum Beispiel gut beobachten und Stimmungen im Raum wahrnehmen, in Gesprächen gehen sie in die Tiefe, sie können Dinge oft gut strukturieren, genau arbeiten und überzeugend schreiben. „Und natürlich können wir mit Leuten reden“, sagt Simone. „Mit Schüchternheit hat das gar nicht unbedingt etwas zu tun. Als ‚Intros‘ finden wir das nur anstrengender als andere Dinge.
Aufeinander zugehen
Dass die Kultur der Geschäftswelt jedoch häufig nicht zu den Bedürfnissen von Introvertierten passe, das sei schon so. Auf Netzwerk-Veranstaltungen hätten Introvertierte etwa häufig das Gefühl, sie müssten mit möglichst vielen Menschen Smalltalk führen. „So wie es Extrovertierte machen würden“, sagt Simone. „Dabei funktioniert es für uns viel besser, wenn wir uns auf wenige langfristige und intensivere Kontakte konzentrieren.“ Auch die Art, wie Meetings abgehalten werden, sei häufig ein Problem. „Dann reden und reden die ‚Extros‘, weil sie das auch ein Stück weit brauchen“, sagt Simone. „Aber die Intros sitzen da und denken sich: Ich muss hier raus und endlich mal was arbeiten.“ Mit ihren Kunden erarbeite sie Strategien, wie sie aus solchen Situationen mehr machen können. Am spannendsten seien für sie aber Workshops in Teams, in denen Introvertierte und Extrovertierte lernen sollen, besser aufeinander einzugehen.
Vor ihrer Tätigkeit als Trainerin und Coach arbeitete Simone in der Logistik-Branche. Zuletzt war sie Teil der Geschäftsführung in einem Beratungsunternehmen, das sich auf Vertragsgestaltung in der Logistik spezialisiert hat. Die Arbeit gefiel ihr. Warum sie ausstieg: Mit zwei Kindern sei es logistisch nicht mehr möglich gewesen, in Vollzeit zu arbeiten, noch dazu, wenn sie mehrmals die Woche von Bensheim nach Koblenz pendeln musste. Aber eine Anstellung in Teilzeit? „Da wird man zu oft aufs Abstellgleis geschoben“, sagt Simone.
In der Betriebswirtschaft Karriere zu machen und Führungskraft mit einer interessanten Tätigkeit zu sein, sei als Angestellte in Teilzeit nahezu unmöglich. Sie habe damals kein einziges Beispiel gekannt, in dem das funktioniert hätte. „Ich hatte so viel für meine Qualifikationen gearbeitet, auch für meinen Masterabschluss“, sagt Simone. „Ich wollte nicht akzeptieren, den Rest meines Lebens die Ablage zu machen.“ Also entschied sie sich für die Selbstständigkeit. „In meinem Arbeitsalltag ist kein Tag ist wie der andere“, sagt sie. „Aber jeder für sich lässt sich gut organisieren.“
Mut zu mehr
Nachdem Fenya ihrer Mutter die rosafarbene Liste mit Fragen präsentiert hatte, dauerte es noch einige Monate bis das Kartenspiel ‚Wie war dein Tag?‘ fertig war. Ein Prototyp, den Fenya zu Weihnachten geschenkt bekam, wurde im Skiurlaub mit Großeltern, Tante und Onkel ausgiebig getestet und um weitere Fragen erweitert. „Über die Auswahl haben wir abgestimmt“, erzählt Fenya. „Das hat richtig Spaß gemacht.“ Stand es unentschieden, hatte sie als Erfinderin das letzte Wort.
Im April 2020 war das erste Exemplar fertig zum Verkauf, mehr als 3200 Spiele verließen seitdem das Haus der Familie. Vieles wurde über einen eigenen Online-Shop verkauft, aber auch beim Buchgroßhändler Libri ist das Spiel erhältlich. Seit Kurzem arbeitet Fenya’s Welt mit Influencerinnen auf Instagram zusammen. Feedback zu dem Spiel bekommen Fenya und Simone Rechel von ganz unterschiedlichen Menschen. In manchen Familien gehört es nun ebenfalls zum Abend-Ritual dazu. Aber auch in Schulen, betreuten Wohngruppen für Behinderte, Kindergärten oder bei Logopäden wird es gespielt. Eine ältere Frau habe erzählt, dass sie es mit ihrem Parkinson-kranken Mann spiele, der sonst nicht mehr viel spreche.
Ein halbes Jahr nach dem ersten hat Fenya’s Welt ein zweites Kartenspiel auf den Markt gebracht. Es heißt ‚Sonne, Käfer, Regenschirm‘ und ist ein Spiel zum Geschichten erfinden. Entstanden ist es, weil Fenya und ihr Vater sich häufig Geschichten ausdachten.
„Ich bin sehr froh, dass das nicht nur eine Idee geblieben ist, die man dann doch nicht gemacht hat“, sagt Simone. Ihre Tochter schöpfe aus dem Projekt Selbstbewusstsein. Aber nicht nur Fenya, sogar sie selbst. „Oft waren wir bei den Spielen mutiger als ich es sonst bei mir im Business war“, sagt Simone. Gab es eine Idee für einen nächsten Schritt, würden sie ihn auf jeden Fall ausprobieren, so hatten sie es von Anfang an beschlossen. Nach dem Motto: If you never try, you will never know. „Das hat mich tatsächlich dazu gebracht, auch meine eigenen Ideen nicht vorher zu zerdenken“, sagt Simone.
Rückhalt und Schwung
Auch die Wirtschaftsjunioren haben einen Anteil am Erfolg des Projekts gehabt. Die bestellten nicht nur im Alleingang die ersten 50 Exemplare, sondern steuerten auch Ideen und Zuspruch bei. „Die Wirtschaftsjunioren sind für mich ein Netzwerk, das super funktioniert“, sagt Simone, die im Kreis Darmstadt-Südhessen aktiv und in diesem Jahr stellvertretende Landesvorsitzende in Hessen ist. „Und es funktioniert auch als introvertierte Person, weil es auf Langfristigkeit und Tiefe angelegt ist.“ Seit wegen der Corona-Pandemie kaum noch persönliche Treffen möglich sind, trifft man sich zur Verbandsarbeit und gelegentlich auch zum Barabend per Zoom.
Inzwischen hat Simone selbst noch ein weiteres Kartenspiel entwickelt: ein Rhetorik-Training für Erwachsene. „Es geht bewusst um das Thema, das ich selbst am schwierigsten finde: spontanes Reden“, lacht sie. Auf den Markt gebracht hat sie es mit dem Trainerkollegen Jörg Kohlbacher, mit dem sie schon vorher zusammenarbeitete. Der wollte zuerst nur 50 Exemplare produzieren lassen. Sie habe gesagt: „Es ist okay, wenn du es nicht machen willst. Aber wenn wir das machen, dann glauben wir da jetzt auch dran.“ Sie bestellten dann das Zehnfache
Vorheriger Artikel der Ausgabe
"Zukunft muss man gestalten wollen"
Nächster Artikel der Ausgabe
Trial and Error
Weiter Beiträge zum Thema
Gesichter der jungen Wirtschaft: Jenny Riedel
Die Unaufhaltsame Jenny Riedel musste in ihrem Leben schon so manche Hürde meistern. Doch das scheint ihr gar nichts auszumachen: Wenn das Leben ihr eine Hürde hinstellt, dann nutzt sie die eben als Sprungbrett. © Andreas Herz Sie weiß selbst nicht mehr, wie oft sie diese Geschichte schon ...
Gesichter der jungen Wirtschaft: Robert Erichsen
Robert Erichsen probiert gern alles aus, was Spaß macht – aber nur in seiner Freizeit. Hauptberuflich führt er das Bremer Familienunternehmen Statex in dritter Generation, und zwar verlässlich und unaufgeregt. Den bringt auch die NASA nicht aus der Ruhe. Bremen, Gewerbegebiet Kleiner ...
Gesichter der jungen Wirtschaft: Marcus Cramer
Gesichter der jungen Wirtschaft: Marcus Cramer Wo die kleinen Schlitten herkommen Hier geht es um Spaß: Das KHW Kunststoff- und Holzverarbeitungswerk GmbH ist einer der größten Hersteller von Kunststoffschlitten und weltweit Marktführer in diesem Segment. Marcus Cramer ist hier der Geschäftsführer ...