Expect the unexpected
Die Nachfolge musste er unerwartet und unvorbereitet antreten, nun wirbt Franz Bradler für eine bessere Notfallvorsorge in Familienunternehmen. Zu Besuch bei Bindwerk in Dresden.
von Beate Erler
Es riecht nach Leim, Papier und Farbe in der riesigen Produktionshalle. „Ich nehme den Geruch gar nicht mehr wahr“, sagt Franz Bradler, der Geschäftsführer der Bindwerk GmbH & Co. KG in Dresden-Niedersedlitz. Die Mitarbeiter zählen Papierbögen ab und legen sie in die Maschinen. Sechs Produktionslinien gibt es in der Halle. Paletten mit Stapeln von Kalendern, Paletten mit bereits verpackten Kisten, die Maschinen rattern. Im November ist die Hochsaison der Kalenderproduktion schon fast vorbei. In den letzten Monaten im Jahr wollen die Kunden die Kalender für das nächste Jahr im Geschäft finden oder Firmen sie als Weihnachtsgeschenk an Kunden versenden. Von September bis November hat das Unternehmen sehr viel mit der Kalenderherstellung zu tun, erzählt Franz. Mittlerweile fasst die Produktionsfläche 3.500 Quadratmeter. „Mein Vater hat nach und nach mehr auf dem Gelände angemietet“, sagt der 33-Jährige, der das Unternehmen für Industriebuchbinderei seit über sechs Jahren leitet. Bei Bindwerk bekommen die Kunden das komplette Spektrum der industriellen Druckweiterverarbeitung. Dazu gehören unter anderem die Bindung von Kalendern und Broschüren, das Falzen und Schneiden und Hardcover für die Buchherstellung. Am Ende kommen fertige Broschüren, Kalender und Bücher aus den Maschinen.
Zwei Jahre auf Weltreise
Mit gerade einmal 27 Jahren hat Franz das Unternehmen mit seinen 50 Mitarbeitern übernommen. Allerdings zuerst nicht freiwillig und auch nicht geplant. Sein Vater, der Geschäftsführer von Bindwerk, verunglückte im Jahr 2016 beim Bergsteigen. „Als ich den Anruf bekam, war ich gerade mit meiner Freundin in Neuseeland“, erzählt Franz. Die Freundin ist inzwischen seine Frau und sie haben eine fünfjährige Tochter. Damals waren sie schon fast zwei Jahre auf Weltreise: Südostasien, Work and Travel als Küchenhelfer, in Hotelbars und Restaurants in Australien und schließlich Neuseeland. Danach sollte es noch in die USA gehen und dann wieder zurück in die Heimat. Vor der großen Reise hatte er Mechatronik studiert und als Praktikant und Diplomand bei Airbus gearbeitet. „Für Technik habe ich mich schon immer interessiert, aber bei Airbus habe ich gemerkt, dass es mir keinen Spaß macht, in einem großen Konzern zu arbeiten.“ Wie es nach der Reise beruflich für ihn weitergehen soll, wusste er damals nicht. Bis der Anruf kam, der alles veränderte. Sein Vater, ein erfahrener Bergsteiger mit 30 Jahren Klettererfahrung, war im Kaukasus verschollen. Er wurde von einer Lawine erfasst, sein Begleiter überlebte. „Wir sind dann zwei Monate später in den Kaukasus gereist, um ihn zu suchen“, sagt Franz, „und tatsächlich konnte die Bergwacht seinen Körper finden.“ Der Vater hatte das Unternehmen 2005 übernommen, aber es nicht als Familienunternehmen aufgebaut. „Er wollte uns Kinder nicht mit reinziehen oder sein Lebenswerk unbedingt an uns weitergeben“, sagt Franz. Als Jugendlicher hat er ab und zu im Unternehmen ausgeholfen und beim Verpacken mitgemacht. Viel mehr wusste er über die Arbeit seines Vaters aber nicht.
Als Nachfolger kam nur er in Frage
Da seine drei Halbgeschwister damals noch minderjährig waren, kam nur er als Nachfolger in Frage. Bis dahin hatte er nie mit dem Gedanken gespielt, das Unternehmen seines Vaters einmal zu leiten. „Es war schon ein bisschen familiärer Druck“, gibt er zu, „aber auch Verantwortungsgefühl für die 50 Mitarbeiter, die plötzlich in der Luft hingen.“ Das große Thema, das ihn bis heute beschäftigt, ist deshalb auch die Notfallplanung im unternehmerischen Kontext. „Mein Vater hat das nicht gemacht und deshalb wurde ich ins kalte Wasser geschmissen“, sagt er heute. Die Wirtschaftsjunioren haben ihm am Anfang geholfen. Franz ist seit 2018 dabei und engagiert sich unter anderem im Arbeitskreis Bildung. „Ich habe eine Einladung über drei Ecken zu einem Clubabend erhalten und gerade am Anfang von dem Austausch mit anderen jungen Unternehmern profitiert“ sagt er. An einem solchen Abend berichtete er in einem Vortrag von seiner Situation und, wie schwierig es war, ohne einen Plan für den Nachfolger die Leitung des Unternehmens zu übernehmen. „Wenn ich eingeladen werde, erzähle ich gern meine Geschichte als abschreckendes Beispiel wie es nicht laufen sollte“, sagt Franz. Heute weiß er Bescheid und empfiehlt für eine Notfallvorsorge unter anderem ein so genanntes Notfallhandbuch, das die IHK kostenlos zur Verfügung stellt. Dort werden alle wichtigen Ansprechpartner, Verträge und Pläne hinterlegt. Im Falle eines Notfalls könne ein Dritter dann zumindest schneller übernehmen. Außerdem ist eine Vorsorgevollmacht wichtig und, dass es im Betrieb möglichst eine rechte Hand des Geschäftsführers und vielleicht sogar Prokuristen gibt.
Selbstständig mit Copyshops
Die Anfänge des Unternehmens liegen weit zurück. Im Jahr 1913 gründete Buchbindermeister Richard Kurth eine Lohnbuchbinderei in der Altstadt von Dresden. Bis 1945 wuchs das Unternehmen: Es begann mit der Herstellung von neuen Produkten wie Taschenkalendern und die Mitarbeiterzahlen stiegen. Doch dann wurde der Betrieb bei den Luftangriffen auf Dresden im Februar 1945 vollständig zerstört. Nur ein Jahr später wurde die Produktion an einem neuen Standort in der Dresdner Neustadt wieder aufgenommen. Nach 19 Jahren als staatlicher Betrieb „VEB Dresdner Kalenderherstellung“ begann 1991 nicht nur politisch eine neue Zeit. Das Unternehmen wurde reprivatisiert zur Richard Kurth GmbH und die Produktion umgestellt: Ab jetzt spezialisierte man sich auf die buchbinderische Verarbeitung von Druckerzeugnissen. Im Jahr 2005 übernahm dann Franz‘ Vater Axel Voigt. Der Diplom-Ingenieur für Maschinenbau hatte sich Jahre zuvor mit Copy-Shops selbstständig gemacht. „Das war im Prinzip die Druckvorstufe und die Buchbinderei war dann das letzte Glied“, sagt Franz. Er gab dem Unternehmen einen neuen modernen Namen und firmierte es zu Bindwerk GmbH & Co. KG um. Die Produktionsstätte wurde auf die Saydaer Straße in neue und größere Betriebsräume verlegt, wo das Unternehmen bis heute seinen Sitz hat. Der Vater investierte in neue Produktionen und erweiterte das Angebot durch eine neue Klebebindelinie, neue Bindekapazitäten mit Kalenderstraße, Spiralbindemaschinen und neue Produktion von Tischkalendern. Noch 2015 stieg Bindwerk mit der Inbetriebnahme einer Buchstraße in die Buchherstellung ein. Gerade laufen dort Bücher der Porzellanmanufaktur Meißen mit Rezepten vom Band. Der Buchdeckel ist tiefschwarz, die bunte Prägung aufwendig und die Schrift schimmert golden. Auch dieses Buch ist ein Werbegeschenk für Weihnachten. In solch hochwertigen Büchern sieht Franz die Zukunft des Buches, für die Kunden bereit sind, Geld auszugeben.
Nur zehn Betriebe in Deutschland
Von denen hat Bindwerk heute ungefähr 150, die das Binden und Heften von Büchern und Kalendern in Stückzahlen von 100 bis 100.000 in Auftrag geben. Es sind vor allem große Druckereien, wie Saxoprint aus Dresden, die sich an das Unternehmen wenden. „Von Hamburg bis in den Schwarzwald gibt es vielleicht zehn Industriebuchbindereien in unserer Größenordnung“, sagt Franz. Aufgrund der hohen Auslastung stehen die Maschinen nur nachts still und die etwa 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Produktion arbeiten im Zweischichtbetrieb. Neben der strategischen Ausrichtung des Unternehmens, Verkauf und Akquise, Investitionsplanung und Mitarbeiterentwicklung, treibt den Geschäftsführer vor allem ein Problem um. Auch Bindwerk ist vom Fachkräftemangel betroffen, sagt er. Normalerweise bilden sie zwei Azubis pro Lehrjahr aus. Derzeit hat das Unternehmen nur einen Lehrling im zweiten Ausbildungsjahr. „Für das neue Jahr, das im August begonnen hat, haben wir niemanden gefunden“, sagt Franz. Nur drei Bewerbungen sind überhaupt eingegangen, aber die Schüler hätten sich unter dem Beruf Medientechnologe Druckverarbeitung etwas anderes vorgestellt. In der Industriebuchbinderei geht es darum, richtig anzupacken und nicht nur am Rechner zu sitzen. „Ich sage den Bewerbern immer, dass sie bei uns sehr schnell in den Händen halten können, was sie selbst herstellen.“ Schon dreimal kam die bundesweit beste Auszubildende aus dem Bindwerk. Zuletzt im Oktober dieses Jahr. Von ihrem Chef können sie lernen, was es heißt, selbst die größte Herausforderung zu meistern.
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